# 13 / 2021
02.12.2021

Güterversorgung in der Krise: Analyse und Lehren für die Schweiz

Versorgungssicherheit in der Corona-Krise

Mit Blick auf die Versorgungsthematik kann die Corona-Krise in zwei Phasen eingeteilt werden:

Akute Pandemiephase (Frühjahr bis Ende 2020): Durch die rasante Ausbreitung des Coronavirus stieg die Nachfrage nach Gütern zur Bekämpfung der Pandemie sprunghaft an. Dies hat in vielen Ländern zu einem Mangel an Produkten wie medizinischen Schutzmasken und Desinfektionsmitteln geführt. In vielen Ländern sind daraufhin Rufe nach mehr Autarkie laut geworden. Auch hierzulande war die Forderung nach einer Verlagerung gewisser Produktionskapazitäten ins Inland zu vernehmen.

Erholungsphase (Frühjahr 2021 bis heute): Dank einer weltweiten Impfkampagne und Produktionsausweitung medizinischer Güter hat sich die epidemiologische und damit auch die wirtschaftliche Lage erholt. Allerdings haben sich die Störungen in den globalen Lieferketten akzentuiert. Ein unerwartet starker Anstieg der Nachfrage seit vergangenem Herbst trifft derzeit auf eine angespannte Lage in der Logistik. Betroffen sind diverse Rohstoffe, Vorprodukte und Industriegüter. Eine rasche Entspannung dieser herausfordernden Situation ist nicht in Sicht.

Akute Pandemiephase: Zeitweiliger Mangel an Gütern zur Pandemiebekämpfung

Ausgelöst durch die Corona-Pandemie, geriet die Weltwirtschaft im Frühjahr 2020 in eine tiefe Rezession. Behördlich verordnete Schliessungen von Produktionsstätten und Exportrestriktionen setzten auch bestimmten Schweizer Importen gehörig zu. Im zweiten Quartal 2020 verzeichneten diese einen saisonbereinigten Rückgang von 16 Prozent gegenüber dem Vorquartal – die stärkste Einbusse seit Jahrzehnten.

Während dieser akuten Pandemiephase galt das Interesse insbesondere den Gütern zur Verhütung und Bekämpfung der Pandemie. Eine Auflistung solcher «wichtiger medizinischer Güter» liefert die Covid-19-Verordnung 2 vom 13. März 2020. Sie teilt diese in drei Kategorien ein:

Tabelle Produktkategorie

 

Obschon die Schweiz keine anhaltenden Versorgungsengpässe verzeichnete, war die Versorgungslage für einige dieser Güter während mehrerer Wochen angespannt.

I. Wirkstoffe und Arzneimittel

Das BWL vermeldete ab Februar 2020 zeitweise einen starken Anstieg der Meldungen von Versorgungsstörungen auf der Heilmittelplattform. Über ein Drittel der Meldungen aus 2020 betrafen Antibiotika (33%), aber auch Antimykotika (14%), Analgetika (12%) oder Muskelrelaxantien (4%) wurden genannt. Als Grund für den Engpass wurde am häufigsten die weltweit ansteigende Nachfrage angegeben. Die Daten zeigen auch, dass sich die Situation nach kurzer Zeit (April 2020) wieder normalisiert hat.

II. Medizinprodukte

Während medizinischer Sauerstoff stets zur Verfügung stand, waren Stahlflaschen zeitweise knapp. Swissmedic erlaubte deshalb vorübergehend den Einsatz von weiteren technisch geeigneten Behältnissen. Bei den Beatmungsgeräten konnte die Versorgung trotz stark wachsender Nachfrage stets gewährleistet werden, lediglich einzelne Komponenten waren zeitweise knapp.

III. Schutzausrüstung

Die Nachfrage nach Desinfektionsmittel hat in kurzer Zeit stark zugenommen, wodurch insbesondere Ethanol knapp wurde. Um diesem Engpass entgegenzuwirken, hat das BAG eine befristete Ausnahmebewilligung für lokal hergestelltes Ethanol erlassen. Längerfristig ist wieder eine Pflichtlagerhaltung von Ethanol vorgesehen (siehe «Lehren aus der Krise» weiter unten).

Weiter bestand zeitweise ein Mangel an Atemschutzmasken. Wie bei den Wirkstoffen ist die Schweiz auch hier stark auf Importe angewiesen (rund 80 Prozent der Maskenimporte stammen aus China). Da die globale Nachfrage im März 2020 in kürzester Zeit massiv zunahm, musste die Schweiz Masken auf einem angespannten Markt beschaffen. Zudem blockierten zeitweise verschiedene Staaten die Ausfuhr von medizinischer Schutzausrüstung in die Schweiz. Dazu gehörten vorübergehend auch einzelne EU-Staaten.

Fokus: Die Wertschöpfungskette von Schutzmasken

Schutzmasken sind günstige Einwegartikel. Dabei geht leicht vergessen, dass deren Produktion verschiedene Rohstoffe und teils relativ anspruchsvolle Fertigungsschritte beinhaltet (siehe nachfolgenden Grafik). Hierzu zählt insbesondere die Herstellung des Filtervlies im sogenannten «Meltblown»-Verfahren.

Dieses Verfahren ist von der OECD als wichtigster Engpass in der Produktion von Schutzmasken identifiziert worden. Denn: Aufgrund hoher Anfangsinvestitionen in Produktionsanlagen kann der Vorgang nur von einer begrenzten Anzahl Unternehmen durchgeführt werden. Dies erklärt auch, weshalb in der akuten Pandemiephase viele Länder Mühe bekundeten, das Angebot an Schutzmasken rasch zu erhöhen.

Case #2: Maskenproduktion in der Schweiz

Zu Beginn der Pandemie sind die Preise für Schutzmasken explodiert – bis zu zehn Franken bezahlte man hierzulande zwischenzeitlich pro Stück. Dies veranlasste mehrere Schweizer Firmen dazu, Maschinen aus China zu importieren, um selbst Masken zu produzieren.

Heute, knapp 1.5 Jahre später, ist jedoch bei vielen Schweizer Maskenproduzenten Ernüchterung eingekehrt. Erste Schwierigkeiten stellten sich zuweilen bereits bei der Beschaffung und Inbetriebnahme der Maschinen. Zudem haben ausländische Hersteller ihre Produktionskapazitäten inzwischen ausbauen können und die Preise sind gesunken. Einige Firmen mussten ihre Produktion deshalb aufgrund mangelnder Nachfrage wieder reduzieren, andere sogar gänzlich einstellen.

Die Cilander AG hat im Mai 2020 ebenfalls damit begonnen, textile Community-Masken herzustellen. Trotz der Herausforderungen sind staatliche Abnahmegarantien für das Unternehmen kein Thema: «Wir glauben nicht daran, dass Gesetze des Marktes mit staatlichen Vorgaben ausser Kraft gesetzt werden können», meint CEO Burghard Schneider. «Die Schweiz muss sich vielmehr auf jene Bereiche konzentrieren, in denen zertifizierte Präzision und höchstwertige Qualität zählen.»

Mythen und Fakten

Mythos I: Die Corona-Krise habe flächendeckende Versorgungslücken in der Schweiz schonungslos aufgedeckt.

Fakten: In der Schweiz ist es trotz Shutdowns, Lieferverzögerungen und Exportrestriktionen verschiedener Staaten zu keinen flächendeckenden und anhaltenden Versorgungsengpässen gekommen. Dies bestätigt auch der Bundesrat in seinem Aussenwirtschaftsbericht 2020. Dank diversifizierter Lieferketten, sinnvoller gesetzlicher Vorgaben (z.B. Pflichtlager) sowie einer engen Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Behörden konnte Schlimmeres verhindert werden.

Auf die zeitweilig angespannte Versorgungslage bei medizinischem Schutzmaterial und Wirkstoffen konnte rasch reagiert werden. Dennoch sollte die Resilienz der Wertschöpfungsketten mit vorausschauenden Massnahmen gestärkt werden (siehe «Lehren aus der Krise» weiter unten).

Mythos II: Handelsrestriktionen seien das effektivste Mittel, um die Versorgungssicherheit in der Schweiz zu sichern.

Fakten: In der akuten Pandemiephase haben zahlreiche Regierungen Exportbeschränkungen auf Arzneimittel und Schutzmaterial beschlossen, um die inländische Nachfrage zu decken. Ein effektives Mittel zur Stärkung der Versorgungssicherheit sind diese Massnahmen allerdings keineswegs:

  • Gegenmassnahmen anderer Handelspartner führen zu einer handelspolitischen Negativspirale. Dabei könnten genau jene Vormaterialien betroffen sein, die man für die eigene Produktion benötigt (z.B. Stoffe für Arzneimittel). Die internationalen Lieferketten geraten dadurch ins Stocken.
  • Exportbeschränkungen reduzieren das Angebot auf dem Weltmarkt, mit entsprechenden Auswirkungen auf den Preis. So hat die Welle von Exportbeschränkungen im Jahr 2020 die Kosten für medizinisches Material im Durchschnitt um 23 Prozent, jene für Schutzmasken gar um 40 Prozent erhöht.
  • Exportverbote fördern eine Ausweitung der Produktionskapazitäten keineswegs. Aufgrund von Skaleneffekten kann es sogar sein, dass ein Unternehmen weniger Anreize hat, im Inland zu verkaufen, wenn es daran gehindert wird zu exportieren.

Die Grundlage stabiler Versorgungssysteme bleibt deshalb auch künftig der globale Handel. Dank der ausgeprägten Exporte unterhalten in der Schweiz zahlreiche internationale Unternehmen eine beachtliche Produktionskapazität – etwa für Nahrungsmittel, Pharma-, Chemie- und weitere Industrieprodukte. Dies ist dank der günstigen Rahmenbedingungen für den weltweiten Export der Fall und wirkt sich positiv auf die Versorgungssicherheit aus.

Erholungsphase: Weltweite Herausforderungen in Transport und Logistik

Seit Frühjahr 2021 haben sich die logistischen Probleme in den globalen Lieferketten ausgeweitet und verschärft. Der Transport auf den Weltmeeren stockt. Weltweit warten viele Konsumenten und Unternehmen vergeblich auf die fristgerechte Auslieferung ihrer bestellten Ware. Branchenkenner reden von einem «perfekten Sturm».

Woher kommen die Störungen in den Lieferketten?

  • 2020 haben ein Produktionsstopp in Asien und ein globaler Nachfragerückgang dazu geführt, dass rund 550 Containerschiffe kurzfristig aus dem Markt genommen wurden.
  • 2021 erhöhte sich die weltweite Nachfrage massiv. Gleichzeitig verschob sich diese von den Dienstleistungen hin zum privaten Konsum (Stichwort «E-Commerce»). Das Ergebnis: Erstmals seit Jahrzehnten übersteigt die Güternachfrage die Transportkapazitäten.
  • Auf manchen Strecken sind die Transportkosten gegenüber dem Vorjahr um mehr als 500 Prozent angestiegen. Dieser Preisanstieg wird in vielen Fällen auf die Konsumenten überwälzt.
  • Auf der wichtigsten Handelsroute von Asien nach Europa fehlen zurzeit viele Container. Dies, weil unter anderem zu Beginn der Pandemie medizinische Ausrüstung auf die Südhalbkugel transportiert wurde.
  • Hafenschliessungen führen zu Staus von unzähligen Containerschiffen vor den Häfen. 2020 verkehrten noch 65 Prozent der Containerschiffe pünktlich, 2021 sank dieser Wert auf 35 Prozent ab.
  • Staus an den Häfen verlagern die Probleme ins Hinterland – es fehlt an LKW-Fahrern.
  • Wegen der Pandemie kam es wiederholt zu Fabrikschliessungen und entsprechenden Produktionsausfällen.

Unsicherheit für Schweizer Unternehmen

Auch viele Schweizer Unternehmen sind derzeit von den Lieferschwierigkeiten betroffen. Eine rasche Normalisierung dieser angespannten Situation ist indes nicht zu erwarten. Dies zeigt eine Umfrage von economiesuisse bei 237 Unternehmen und Verbänden im Oktober 2021:

  • Aus einem Absatzproblem im letzten Jahr ist ein Produktionsproblem geworden: Vier von fünf Unternehmen melden Schwierigkeiten beim Bezug von Vorprodukten. Dieser Anteil ist deutlich höher als während der Akutphase der Pandemie letztes Jahr (siehe nachstehende Grafik).
  • Der Materialmangel betrifft fast den ganzen Industriesektor (inkl. Baubranche), aber auch den Handel. Sowohl Rohstoffe (Stahl oder Holz) als auch Vorprodukte (Computerchips) und Endprodukte (Waschmaschinen oder Autos) sind knapp.
  • Gerade die Lieferengpässe bei den Computerchips und Halbleitern machen zahlreichen Branchen zu schaffen. So fehlt beispielsweise der Medizinaltechnik derzeit jegliche Planungssicherheit bei Beschaffung und Produktion.
  • Der meistgenannte Grund für die Lieferengpässe sind Probleme beim Transport und der Logistik (72 Prozent). Aber auch eingeschränkte Produktionskapazitäten (68 Prozent) und Produktionsausfälle bei Zulieferern (64 Prozent) werden angeführt.
  • Als Gegenmassnahme haben rund zwei Drittel der Unternehmen ihre Lager aufgestockt, rund die Hälfte der Firmen sucht nach weiteren Lieferanten.
  • Ebenfalls rund die Hälfte der Unternehmen sah sich bereits gezwungen, die Preise zu erhöhen. Drei Fünftel planen diesen Schritt innerhalb der nächsten sechs Monate.

Mythen und Fakten

Mythos III: Die Globalisierung sei ein Nachteil für die Versorgungssicherheit der Schweiz.

Fakten: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass weniger globalisierte Länder die Corona-Krise besser gemeistert hätten als stärker international vernetzte Volkswirtschaften. Im Gegenteil: Eine Studie der OECD von Februar 2021 hat gezeigt, dass die Einbindung in globale Wertschöpfungsketten eine wichtige Rolle bei der Abfederung wirtschaftlicher Schocks im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gespielt hat. Weniger globalisierte Länder sind solchen Schocks zwar weniger stark ausgesetzt, können diese aber weit weniger gut durch internationalen Handel abfedern.

Dies gilt auch für die Schweiz: Erst die grenzüberschreitende Vernetzung von Entwicklung, Forschung und Produktion vermochte hierzulande ein bislang unerreichtes Mass an Verfügbarkeit, Vielfalt und Innovationsgrad von kritischen Gütern und Dienstleistungen zu günstigen Preisen zu garantieren. Eine Entkopplung von globalen Wertschöpfungsketten würde grundsätzlich das Gegenteil bewirken.

Mythos IV: Die Schweiz müsse mehr Produktionskapazitäten im Inland aufbauen, um bei Engpässen in den Lieferketten besser reagieren zu können.

Fakten: Die Idee der Arbeitsteilung gründet auf der Einsicht, dass sich ein Land auf die Produktion jener Güter spezialisieren soll, für die es relativ gesehen besser ausgestattet ist als andere. Die komplette Herstellung von kritischen Versorgungsgütern in der Schweiz wäre daher ohne massive staatliche industriepolitische Eingriffe weder volks- noch betriebswirtschaftlich sinnvoll.

Zudem: Auch ein europäischer oder schweizerischer Hersteller ist auf Vorleistungen aus dem Ausland angewiesen (z.B. chemische Grundstoffe, Garne, Kunststoffe). Es ist deshalb vielmehr die geografische Verteilung, welche es der Wirtschaft ermöglicht, Krisen in bestimmten Regionen durch die Versorgung aus anderen Märkten zu kompensieren. Mit anderen Worten: Durch die verzerrte Fokussierung auf die Endproduktion wird das Problem eines Engpasses nicht behoben, sondern lediglich entlang der Wertschöpfungskette verschoben.

Weshalb eine «Re-Nationalisierung» der Produktion auch ökonomisch ein illusorisches Unterfangen darstellt, zeigt sich exemplarisch am Beispiel der Generika-Medikamente:

  • Die Bedeutung der internationalen Arbeitsteilung verunmöglicht eine autarke Herstellung für den kleinen Absatzmarkt Schweiz. Generika bestehen nicht nur aus Wirkstoffen, sondern benötigen Zusatz- und Füllstoffe. Die Herstellung solcher Stoffe in der Schweiz rechnet sich schlicht nicht.
  • Selbst bei hoher Kosteneffizienz könnte aufgrund der hohen Produktionskosten in der Schweiz der aktuelle Marktpreis von Generika nicht gehalten werden. Aufgrund laufender Preissenkungen kann nur über grosse Volumen mit niedrigen Margen wirtschaftlich gearbeitet werden.
  • Die hierzulande bestehenden Produktionskapazitäten sind bereits weitgehend ausgelastet. Investitionen in neue Produktionsanlagen wären erforderlich, was sich jedoch aufgrund schwieriger wirtschaftlicher Aussichten nicht rechtfertigen lässt. Wenn überhaupt, sollten Produktionskapazitäten kontinental und mit mehreren Staaten koordiniert angegangen werden.

Fokus: Die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes

Die Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen sind sehr komplex und langwierig. Umso bemerkenswerter ist, dass binnen kürzester Zeit gleich mehrere Impfstoffe gegen das Coronavirus entwickelt und zugelassen werden konnten. Wozu die Pharmaindustrie sonst mehrere Jahre benötigt, gelang ihr dieses Mal in nur einem Jahr. Nebst beschleunigten Zulassungsverfahren der Arzneimittelbehörden war hierfür insbesondere die internationale Kooperation im Bereich Forschung, Entwicklung, Tests und Produktion unerlässlich.

Der Ort der eigentlichen Endfertigung eines Wirkstoffs ist für die Versorgungssicherheit jedoch von untergeordneter Bedeutung. Eine nationale Autarkie für die Herstellung von Impfstoffen ist eine Illusion. Politisch motivierte Exportrestriktionen bei der Verteilung von Impfstoffen haben eine destabilisierende Wirkung im Kampf gegen eine Pandemie. Nicht selten führen diese zu Gegenmassnahmen, die funktionierende Lieferketten empfindlich stören können.