# 07 / 2019
19.02.2019

Institutionelles Abkommen Schweiz-EU: Eine Chance für das bilaterale Verhältnis

Pluspunkte des Abkommens

Der Inhalt des Abkommens wurde im dossierpolitik #1/19 (Institutionelles Abkommen Schweiz-EU – Fragestellungen und Einordnung) ausführlich beschrieben. Die drei von der Wirtschaft dort formulierten Ziele werden mit dem vorliegenden Vertragsentwurf erreicht:

  1. Der heute mit den bilateralen Abkommen erreichte Integrationsgrad im europäischen Binnenmarkt wird mit dem vorliegenden Entwurf gesichert. Er garantiert den Erhalt der bestehenden Marktzugangsabkommen mitsamt den von der EU zugestandenen Abweichungen vom EU-Acquis. Im Bereich des Freizügigkeitsabkommens garantiert er darüber hinaus drei flankierende Massnahmen, welche die EU heute nicht anerkennt.
     
  2. Der Abkommensentwurf sieht die Option auf eine künftige Weiterentwicklung des bilateralen Wegs mit neuen Abkommen ausdrücklich vor.
     
  3. Die Rechtssicherheit wird klar verbessert, wie nachstehend noch dargelegt wird.

Mehr noch: Der Entwurf bietet für die Schweiz zahlreiche Verbesserungen gegenüber dem heutigen Zustand. Die wichtigsten Pluspunkte sind:

Pluspunkt 1: Geltungsbereich

Ursprünglich sollten alle 140 bilateralen Abkommen zwischen der EU und der Schweiz unter das InstA fallen. Dieses ist nun aber lediglich auf die fünf bestehenden Marktzugangsabkommen der Bilateralen I (Personenfreizügigkeit, Technische Handelshemmnisse, Landwirtschaftsprodukte, Land- und Luftverkehr) anwendbar. Dadurch wird der Geltungsbereich des Abkommens stark eingeschränkt. Diese Einschränkung schafft Klarheit, senkt das Konfliktpotenzial und sorgt für Rechtssicherheit. Künftig abgeschlossene Marktzugangsabkommen würden ebenfalls unter das InstA fallen. Dies wären zurzeit das Stromabkommen und die Beteiligung der Schweiz an der Europäischen Eisenbahnagentur. Noch offen ist, ob auch ein modernisiertes Freihandelsabkommen dem InstA unterstellt würde. Dies wird in künftigen Verhandlungen zu klären sein.

Pluspunkt 2: Streitschlichtung

Der im InstA vorgesehene Streitschlichtungsmechanismus verbessert die Situation für die Schweiz grundlegend: Neu kann sie eine Streitfrage einem unabhängigen Schiedsgericht zur Beurteilung vorlegen. Selbst wenn eine der Parteien den Schlichtungsentscheid nicht akzeptieren sollte, kann die Gegenpartei nur «verhältnismässige» Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese können maximal bis zur Suspendierung, nicht aber Kündigung einzelner Abkommen gehen. Ob eine Ausgleichsmassnahme der EU verhältnismässig ist, kann dem Schiedsgericht zur Prüfung vorgelegt werden. So dürfte das Schiedsgericht sachfremde Massnahmen der EU wie beispielsweise die Nichtanerkennung der Börsenäquivalenz in Zukunft kaum als verhältnismässige Gegenmassnahme anerkennen. Das schützt die Schweiz vor Willkür. Sie erhält also ein wirksames Instrument, um ihre Interessen noch besser durchzusetzen, was wiederum die Rechtssicherheit für Schweizer Unternehmen stärkt.

Pluspunkt 3: Dynamische Rechtsübernahme, Auslegung und Überwachung

In den von den Marktzugangsabkommen geregelten Bereichen soll die Schweiz die Rechtsentwicklung der EU in Zukunft nachvollziehen, allerdings nicht automatisch, sondern durch eine Übernahme ins nationale Recht und unter Wahrung des bestehenden Schweizer Gesetzgebungsverfahrens (inkl. Referendum). Die dynamische Rechtsübernahme ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein Recht: Unter dem InstA kann die Schweiz beispielsweise von der EU die rechtzeitige Nachführung des Abkommens über technische Handelshemmnisse verlangen. Im Notfall kann sie das Schiedsgericht anrufen. Die EU ihrerseits kann nicht mehr durch die Verzögerung von Verhandlungen den Zugang für Schweizer Produkte auf den Binnenmarkt gefährden. Damit entfällt ein politisches Druckinstrument der EU, wie es etwa nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative eingesetzt wurde. Die dynamische Rechtsübernahme stärkt somit die Rechtssicherheit für Unternehmen.

Positiv ist zudem zu werten, dass die EU die in den Bilateralen I verankerten Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme nicht infrage stellt, sondern vertraglich garantiert. Ausserdem kann die Schweiz in Zukunft die für den Binnenmarkt relevante EU-Gesetzgebung vorab mitbeeinflussen (decision shaping), denn sie wird bei der Erarbeitung der relevanten Rechtsentwicklungen in der EU systematisch konsultiert und Schweizer Experten können bei der Entwicklung der EU-Vorschriften in EU-Gremien mitarbeiten.

Was bedeutet dynamische Rechtsübernahme?

Durch das InstA verpflichtet sich die Schweiz, Weiterentwicklungen von Rechtsnormen der EU in Schweizer Recht zu übernehmen. Diese Verpflichtung gilt allerdings nur für Abkommen, die der Schweiz einen diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt gewähren. Damit soll sichergestellt werden, dass in der Schweiz dieselben Regeln gelten wie in der EU. Die Übernahmepflicht gilt auch nur für Rechtsnormen, die den europäischen Binnenmarkt regeln. Der genaue Umfang der künftigen Übernahme von EU-Acquis ins Schweizer Recht ist Verhandlungssache und muss durch den Gemischten Ausschuss vereinbart werden. Allenfalls kann die Schweiz inhaltliche Abweichungen oder verlängerte Umsetzungsfristen vom EU-Recht durchsetzen, wenn diese aufgrund sachlicher Umstände begründbar sind. Im Landverkehr gilt beispielsweise eine Höchstgrenze von 40 Tonnen für Lastwagen auf Schweizer Strassen. Diese Höchstgrenze würde auch dann bleiben, wenn die EU in Zukunft höhere Tonnagen auf ihrem Strassennetz erlauben würde. Die Übernahme in Schweizer Recht erfolgt im Rahmen des Schweizer Gesetzgebungsprozesses. Dafür gibt die EU der Schweiz eine Umsetzungsfrist von zwei Jahren. Sollte gegen einen Gesetzesentwurf das Referendum ergriffen werden, erhält die Schweiz ein weiteres Jahr Zeit, um dieses durchzuführen.

Pluspunkt 4: Staatliche Beihilfen

In Zukunft soll das Beihilferecht der EU in denjenigen Marktzugangsabkommen Anwendung finden, in denen dies ausdrücklich vorgesehen ist. Dies ist zurzeit nur beim Luftverkehrsabkommen der Fall. Auf ein künftiges Stromabkommen würden die EU-Regeln zu staatlichen Beihilfen ebenfalls Anwendung finden und möglicherweise auf ein modernisiertes Freihandelsabkommen, falls man sich darüber auf dem Verhandlungsweg einig wird. Zu begrüssen ist, dass das Verbot staatlicher Beihilfen nicht absolut gilt. Das InstA führt in Art. 8A Abs. 2 zahlreiche Ausnahmeregelungen auf, welche bestimmte Beihilfen erlauben und die nach Massgabe der jeweiligen sektoriellen Verträge auch für die Schweiz gelten würden. Ausserdem werden die Beihilferegeln nicht allgemein, sondern nur im Anwendungsbereich eines sektorspezifischen Abkommens anwendbar sein. Ferner konnte die Unabhängigkeit der Überwachung staatlicher Beihilfen gewahrt werden – die EU wird auch künftig keine hoheitliche Aufsichtskompetenz gegenüber der Schweiz erhalten. Das InstA wird zudem zu mehr Transparenz bei den Subventionen und Beihilfen in der Schweiz führen. Das ist zu begrüssen.

Worum geht es bei staatlichen Beihilfen?

Im EU-Recht gilt grundsätzlich ein Verbot bzw. die Kontrolle von vom Staat gewährten finanziellen Vorteilen (z.B. Subventionen oder Steuererleichterungen). Diese sind dann grundsätzlich verboten, wenn sie nur gewissen Branchen oder Unternehmen (also selektiv) gewährt werden bzw. die Herstellung bestimmter Waren begünstigen. Die Vorteile müssen zudem den grenzüberschreitenden Warenhandel beeinträchtigen sowie den Wettbewerb verzerren bzw. verzerren können.

Es gelten zahlreiche Ausnahmen, sodass man heute eher von einem Kontrollsystem als von einem strengen Verbotssystem sprechen könnte. Dadurch werden Marktverzerrungen verhindert. Neue Beihilfen müssen zur wettbewerbsrechtlichen Vorabkontrolle angemeldet werden.

Das Schweizer Wettbewerbsrecht (Kartellgesetz) kennt keine entsprechenden Beihilferegeln. Aufgrund des vorliegenden Vorschlags wird das EU-Beihilferecht nicht umfassend eingeführt, sondern nur in sektorspezifischen Bereichen wie dem Luftverkehr, in denen es ausdrücklich aufgeführt werden muss.

Pluspunkt 5: Flankierende Massnahmen

Zwar verlangt die EU von der Schweiz die Anpassung der Flankierenden Massnahmen (FlaM) an das europäische Entsenderecht. Die Ziele der FlaM, nämlich der Schutz vor Lohndumping und der Erhalt des Schweizer Lohnniveaus, werden von der EU jedoch nicht infrage gestellt. Im Gegenteil: Die EU anerkennt im InstA die Besonderheiten des schweizerischen Arbeitsmarkts. Sie garantiert der Schweiz explizit Ausnahmen vom europäischen Entsenderecht, wie beispielsweise eine Voranmeldefrist von vier Arbeitstagen. Zudem kann die Schweiz bei Bedarf auch in Zukunft neue flankierende Massnahmen zum Schutz des Lohnniveaus einführen, solange diese verhältnismässig und diskriminierungsfrei sind. Wichtig ist, dass die EU der Schweiz Ausnahmen zugesteht, welche andere Teilnehmer am Binnenmarkt nicht haben (Voranmeldefrist usw.).

Bei den FlaM sind die Relationen zu beachten: Erstens haben alle empirischen Studien bisher nur geringe Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf das Lohnniveau gemessen. Ausserdem stiegen zwischen 2002 und 2016 die Löhne von Arbeitnehmern mit tiefem Ausbildungsniveau und entsprechend tiefen Löhnen mit jährlich 0,9 Prozent am stärksten von allen Lohnsegmenten. Zweitens leisten Kurzaufenthalter gemäss Berechnungen von Avenir Suisse ein Arbeitsvolumen, welches im Schnitt gerade einmal 0,7 Prozent der hiesigen Gesamtbeschäftigung entspricht. Dieses Arbeitsvolumen führt somit nicht zu einem Lohndruck. Mittelfristig werden die Löhne in der Schweiz gesamthaft von der Arbeitsproduktivität und nicht von den FlaM bestimmt.

Pluspunkt 6: Kündigung des Abkommens

Wird das InstA durch eine der beiden Parteien gekündigt, tritt es nach sechs Monaten ausser Kraft – zusammen mit allen seit seinem Abschluss vereinbarten Marktzugangsabkommen. Für die bereits bestehenden Marktzugangsabkommen der Bilateralen I ist in diesem Fall ein dreimonatiger Konsultationsprozess vorgesehen, um eine Lösung für deren Fortbestand zu finden. Gelingt dies nicht, würden auch diese nach einer Frist von sechs Monaten ausser Kraft gesetzt.

Die Verknüpfung der Marktzugangsabkommen mit dem InstA und deren automatische Kündigung, sollte das InstA wegfallen, stellt materiell keine Verschlechterung gegenüber dem heutigen Status quo dar. Zuerst gilt es festzuhalten, dass beide Parteien internationale Abkommen auch ohne Grund jederzeit im Rahmen der darin festgeschriebenen Prozeduren kündigen können. Ohne InstA ist bislang im Konfliktfall nur eine politische Einigung über Verhandlungen zwischen den Parteien möglich. Gelingt diese nicht, besteht nur die Möglichkeit einer Kündigung des gesamten Abkommens. Die Streitschlichtung ändert die Situation grundlegend: Nun kann eine Streitfrage einem unabhängigen Schiedsgericht vorgelegt werden. Selbst wenn eine der Parteien den Schlichtungsentscheid nicht akzeptieren sollte, kann die Gegenpartei nur «verhältnismässige» Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese können im Maximum bis zur Suspendierung (Abkommen bleibt bestehen, wird aber bis zur Behebung des Missstands nicht angewendet) einzelner Abkommen gehen. Die Kündigung eines Abkommens ist keine verhältnismässige Ausgleichsmassnahme.

Damit erhöht das InstA die Rechtssicherheit auch bezüglich des Fortbestehens der bilateralen Abkommen. Nicht unter die Kündigungsklausel fällt das FHA72, da es zurzeit nicht Teil des InstA ist. Ob dies bei einer Modernisierung des Abkommens der Fall sein wird, wird Gegenstand der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU sein.