# 2 / 2022
02.02.2022

Beziehungen Schweiz-EU: Es ist Zeit, jetzt zu handeln

Nach dem Verhandlungsabbruch: Konkrete Forderungen der Wirtschaft

Für eine aktive Europapolitik

economiesuisse hat gemeinsam mit ihren Mitgliedern Hauptforderungen an die Schweizer Europapolitik ausgearbeitet. Dabei steht die Frage im Zentrum, was die Wirtschaft von der Europapolitik in den kommenden zwei bis drei Jahren braucht und wo genau die Prioritäten zu setzen sind. Um in den priorisierten Bereichen rechtzeitig Lösungen erreichen zu können, muss jetzt gehandelt werden. Eine Politik des «Zuwartens» bis nach den eidgenössischen Wahlen im Jahr 2023 wird klar abgelehnt. Nachdem der Gesamtbundesrat die Verhandlungen über das Rahmenabkommen einseitig abgebrochen hat, steht er nun in der Verantwortung, die Zukunftsfähigkeit der Europapolitik zu gewährleisten. Die Forderungen sind in vier Themenfelder aufgeteilt:

  1. Grundsatzentscheide
  2. Prioritäre Bereiche und Auffangmassnahmen
  3. Institutionelle Forderungen
  4. Forderung nach einer gezielten Strukturpolitik zur Stärkung der Exportwirtschaft

Grundsatzentscheide des Bundesrats zur Deblockierung der Europapolitik

Es ist Zeit, jetzt zu handeln. Ein Zuwarten in der Europapolitik bringt der Schweiz klare politische und wirtschaftliche Nachteile. Deshalb verlangt die Wirtschaft, dass der Gesamtbundesrat unverzüglich die Deblockierung der Europapolitik an die Hand nimmt. Anerkanntes und breit abgestütztes Ziel der Schweizer Europapolitik ist die Fortsetzung des bilateralen Wegs – auch die EU hat ihr Interesse hierzu mehrfach bekundet. Die Deblockierung setzt drei Grundsatzentscheide des Gesamtbundesrats voraus:

1. Fortsetzung der fünf bilateralen Marktintegrationsabkommen

  • Der Bundesrat steht vor der Grundsatzentscheidung über die Fortsetzung der fünf bestehenden Marktintegrationsabkommen. Will er deren Fortsetzung, dann braucht es seitens der Schweiz auch ein klares Bekenntnis zur Lösung der institutionellen Fragen mit der EU. Denn es gibt seit 2018 keinen einzigen Hinweis, dass die EU ohne deren Klärung zu einer Fortsetzung der bestehenden Marktintegrationsabkommen bereit ist.
  • Entscheidet sich der Bundesrat, die Marktintegrationsabkommen nicht weiterzuführen, muss er eine europapolitische Alternative zur Regelung der Wirtschaftsbeziehungen entwickeln. Dies beinhaltet auch die aktualisierte Prüfung eines umfassenden Freihandelsabkommens mit dessen staatspolitischen sowie wirtschaftlichen Vor- und Nachteilen.

economiesuisse ist klar für eine Fortsetzung der fünf bilateralen Marktintegrationsabkommen. Es sind auf absehbare Zeit keine europapolitischen Alternativen ersichtlich, die eine gleichwertige Marktteilnahme gewährleisten und politisch mehrheitsfähig sind.

2. Aktive Ausarbeitung einer gemeinsamen Agenda

  • Basierend auf den gemeinsamen strategischen Interessen der Schweiz und der EU muss der Bundesrat zügig eine Agenda entwickeln und diese der EU vorschlagen. Sie soll sowohl kurzfristige Prioritäten für die nächsten zwei Jahre, wie auch mittelfristige Perspektiven aufzeigen.
  • Mit Blick auf die mittelfristige Zeitachse dieser Agenda sind die wirtschaftlichen Fragen des bilateralen Wegs aus der Perspektive der grundsätzlichen, strategischen Ziele beider Seiten festzulegen: Der Bundesrat und die EU sollen konkret definieren, wie sie bei den gemeinsamen strategischen Interessen im Industrie- und Finanzsektor, bei der Forschung und Innovation, den Infrastrukturen (Land- und Luftverkehr, Stromversorgung) sowie bei der Klima- und Gesundheitspolitik zusammenarbeiten wollen.

3. Aktive Durchsetzung der Schweizer Interessen

  • Die Wirtschaft verlangt die fortgesetzte Anwendung aller bilateraler Abkommen, die in Kraft sind (pacta sunt servanda).
  • Sollte die EU die Anwendung der bestehenden Abkommen weiterhin verweigern, so sind juristische Massnahmen zu prüfen und einzusetzen. Dies umfasst auch die rechtliche Unterstützung von klagewilligen Unternehmen und Organisationen, die sich auf dem Gerichtsweg gegen diskriminierende Massnahmen der EU wehren wollen. Ebenfalls soll die Schweiz bei fortgesetzten oder neuen Diskriminierungen bestehende Klagemöglichkeiten beim Europäischen Gerichtshof oder der WTO nutzen.

Prioritäre Bereiche und Auffangmassnahmen

Prioritäre Bereiche

Für economiesuisse sind in den kommenden zwei Jahren Lösungen in vier Bereichen prioritär:

  • Äquivalenzanerkennung bei den Finanzregulierungen für Drittstaaten (Börsenregulierung, Finanzdienstleistungen) sowie Marktzugang für Bank- und Wertpapierdienstleistungen.
  • Massnahmen zum Abbau technischer Handelshemmnisse bei Medizinprodukten, weiteren Industrieprodukten und Produktionsverfahren bei Medikamenten.
  • Forschung und betriebliche Innovationsförderung.
  • Strommarkt und Versorgungssicherheit.

In diesen vier Bereichen ist der wirtschaftliche Schaden für Schweizer Unternehmen sowie deren Lieferanten und Kunden in der EU erheblich. Auch für den Forschungsplatz entstehen Nachteile. Der Schaden ist bereits entstanden oder wird in den kommenden zwei Jahren eintreten. Dies für den Fall, dass die EU ihren Kurs der Nichtanwendung bestehender Abkommen fortsetzt, wovon zum aktuellen Zeitpunkt auszugehen ist. Diese Schäden können nicht einfach passiv in Kauf genommen werden, sondern sind durch ein Massnahmenpaket zu minimieren.

Auffangmassnahmen in den prioritären Bereichen

Die unmittelbaren und direkten Schäden, die sich aus dem einseitigen Verhandlungsabbruch der Schweiz ergeben, sind mit folgenden Auffangmassnahmen schnellstmöglich zu minimieren:

  • Schweizer Börsen- und Finanzplatz: Verbesserungen der fiskalischen und regulatorischen Rahmenbedingungen zur Stärkung von dessen internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Des Weiteren ist der grenzüberschreitende Marktzugang für Bank- und Wertpapierdienstleistungen aus der Schweiz durch praktikable Ansätze gemäss der Finanzmarktstrategie des Bundesrats (Dezember 2020) zu verbessern.
  • Medizinprodukte: Bei der MepV sollen keine Regeln eingeführt werden, die weitergehen als die MDR und den Handel erschweren (kein Swiss Finish).
  • Forschung und betriebliche Innovationsförderung: Wenn die EU der Schweiz die Assoziierung am Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe weiterhin verweigert, soll der Bund in den kommenden zehn Jahren zusätzliche Mittel in Forschung und Innovationsförderung investieren. Diese Mittel sind zur Förderung von Projekten sowohl in Europa als auch in Drittstaaten (bei Projekten mit einem genügenden Schweizer Bezug) einzusetzen. Die betriebliche Innovationsförderung ist in Zusammenarbeit mit den führenden Wirtschaftsstandorten zügig auszubauen.
  • Energiepolitik: Ohne Stromabkommen mit der EU braucht die Schweiz eine grundlegende Anpassung ihrer Energiestrategie. Zudem braucht es in der Schweiz Investitionen in die Netzstabilität.

Diese Auffangmassnahmen sind jetzt einzuleiten, da es mehrere Jahre dauern dürfte, bis die Europapolitik vollständig deblockiert ist.

Zudem fordert die Wirtschaft Effizienzsteigerungen bei den Lohnschutzmassnahmen und flankierenden Massnahmen durch deren Digitalisierung. Die Digitalisierung soll Anmeldungen, Nachweise sowie Kontrollen vereinfachen. Dies erhöht die Effektivität der Massnahmen und reduziert die Kosten. Dank der Digitalisierung kann auch die Voranmeldefrist stark verkürzt werden.

Institutionelle Forderungen: Wirtschaft braucht Rechtssicherheit

Die Schweizer Unternehmen brauchen Rechtssicherheit bezüglich der Wirtschaftsbeziehungen mit der EU. Hierfür ist eine Klärung institutioneller Aspekte unerlässlich.

Sektorieller Ansatz in Kombination mit allgemeinem Abkommen zur Regelung der Marktteilnahme

  • Es ist Sache des Gesamtbundesrats, institutionelle Lösungen gemeinsam mit der EU anzustreben und auszuhandeln. Dabei gibt es mehrere Möglichkeiten.
  • Da die institutionellen Regeln nur die bestehenden fünf Marktintegrationsabkommen (Personenfreizügigkeit, Land-, Luftverkehr, Technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft) betreffen, können diese auch in den jeweiligen Abkommen geregelt werden.
  • Zusätzlich lassen sich grundsätzliche, für alle Marktintegrationsabkommen geltende Regeln in einem allgemeinen «Abkommen zur Regelung der Marktteilnahme» festhalten.

Synchronisierung der Marktintegrationsabkommen und Äquivalenzanerkennung

  • Für die Unternehmen ist die zeitgerechte Nachführung der Marktintegrationsabkommen an das massgebliche EU-Recht zentral für die Teilnahme am Binnenmarkt. Für die Unternehmen entstehen Probleme, wenn die EU die Nachführung blockiert.
  • Diese Synchronisierung ist besonders zentral bei technischen Handelshemmnissen sowie beim Land- und Luftverkehr.
  • Auch bei den Äquivalenzverfahren ist die rechtzeitige Anerkennung der Schweizer Regeln wichtig.

Rechtsverfahren zur Streitbeilegung im Interesse der Schweiz

  • Gleichermassen bedeutend ist ein Mechanismus zur Streitbeilegung: Können sich die Schweiz und die EU bei einer Streitfrage politisch nicht einigen, braucht es ein ausgewogenes Rechtsverfahren zur Streitschlichtung.
  • Auf politisch motivierte Retorsionsmassnahmen beider Seiten zulasten der Unternehmen ist zu verzichten.

Forderung besserer Rahmenbedingungen für die Exportwirtschaft

Da die Exportwirtschaft am stärksten von den fortgesetzten Nadelstichen der EU betroffen ist, braucht es strukturelle Massnahmen zur gezielten Stärkung der Exportwirtschaft. Diese werden umso dringlicher, je mehr die EU die Anwendung bestehender Abkommen verweigert. Für die Schweizer Aussenwirtschaft sind nicht nur die Beziehungen zur EU, sondern auch der Multilateralismus (WTO) und die bilateralen Beziehungen zu anderen wichtigen Handelspartnern strategisch äusserst bedeutsam. Bei Letzteren dürften insbesondere die USA und China weiter an Bedeutung gewinnen. Daraus abgeleitet, lassen sich folgende Handlungsfelder skizzieren:

  • Verbesserung der guten steuerlichen Rahmenbedingungen des Schweizer Wirtschaftsstandorts unter Berücksichtigung der OECD-Standards.
  • Konsequenter Ausbau des Freihandelsnetzes der Schweiz: Abschluss neuer Abkommen (insbesondere Mercosur, Malaysia, Vietnam, USA, Indien und Australien) sowie Modernisierung bestehender Freihandelsabkommen (insbesondere Kanada, China, Mexiko, Japan, Südkorea). Bei den Freihandelsabkommen ist die Verknüpfung der Ursprungsregeln (Kumulation) mit den Partnerländern anzustreben.
  • Abkommen auf dem Gebiet des digitalen Handels (multilateral und bilateral, «stand alone» oder als Teil von Freihandelsabkommen).
  • Rasche und proaktive Prüfung einer Teilnahme an plurilateralen Freihandelszonen mit Schwerpunkt Pazifik/Asien/Afrika (z.B. RCEP, CPTPP, AfCFTA).
  • Teilnahme an relevanten, plurilateralen und handelserleichternden WTO-Initiativen (z.B. Healthcare Products Initiative)
  • Reduktion nicht-tarifärer Handelshemmnisse durch globale Harmonisierung (z.B. GHS)
  • Stärkere Gewichtung aussenwirtschaftlicher Prioritäten: Da die Schweiz auf eine Stärkung der Exportwirtschaft angewiesen ist, können künftig rein innenpolitisch motivierte Partikularinteressen weniger stark berücksichtigt werden. Stichworte: Agrarprotektionismus, Verzicht auf Technologieverbote (z.B. Gentech-Verbote), Verzicht auf unilaterale Massnahmen (Swiss Finish, z.B. Lebensmittelvorschriften), Verzicht auf Exportverbote/-restriktionen (z.B. Pflanzenschutzmittel), Prüfung gewerkschaftlicher Macht- und Finanzinteressen.
  • Rasche Umsetzung der beschlossenen Abschaffung sämtlicher Importzölle auf Industrieprodukte.
  • Steigerung der Attraktivität des Schweizer Wirtschaftsstandorts für ausländische Direktinvestitionen. Verzicht auf staatliche Investitionskontrollen und andere protektionistische Massnahmen.
  • Digitalisierung der Verwaltungsabläufe zur Senkung der Kosten für die Exportunternehmen.
  • Ausbau der Exportförderung.
  • Weiterentwicklung des konsularischen Schutzes der Unternehmen.