Fokus In­fla­ti­on XI: eine Zen­tral­bank muss die Märk­te über­ra­schen dür­fen

Die Schwei­ze­ri­sche Na­tio­nal­bank (SNB) hat mit der Zins­er­hö­hung am 16. Juni 2022 alle über­rascht. Wei­te­re Er­hö­hun­gen sind wahr­schein­lich, da die In­fla­ti­ons­ra­te deut­lich über dem Ziel­band der SNB liegt. Im Ge­gen­satz zu den USA und der EU wurde die Zins­wen­de in der Schweiz ein­ge­lei­tet, bevor die In­fla­ti­ons­wel­le kaum mehr ohne gros­se Kos­ten zu stop­pen ist. Die SNB konn­te die Zin­sen auch des­we­gen an­pas­sen, weil sie sich nicht einem «For­ward Gui­dance»-Kon­zept ver­pflich­tet hat. Ihre Stra­te­gie ist es, auf die je­wei­li­gen Ent­wick­lun­gen zeit­nah zu re­agie­ren. Der ent­schei­den­de Punkt ist daher: Ob­wohl der Zins­schritt die Märk­te über­rasch­te, war er rich­tig. Dies kon­tras­tiert mit der zö­ger­li­chen Hal­tung jener Zen­tral­ban­ken, wel­che sich dem Kon­zept der «For­ward Gui­dance» ver­schrie­ben haben.

Die SNB hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren be­harr­lich ge­wei­gert, die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­po­li­tik der gros­sen Zen­tral­ban­ken zu über­neh­men. Diese tei­len je­weils nicht nur die Grün­de für einen Zins­ent­scheid mit, son­dern legen dar­über hin­aus dar, wel­che Geld­po­li­tik in der Zu­kunft zu er­war­ten sei. Diese «For­ward Gui­dance» der Märk­te hat in jüngs­ter Zeit aber of­fen­sicht­lich zu er­heb­li­chen Ir­ri­ta­tio­nen ge­führt. So hat in den USA der Prä­si­dent des Fe­deral Re­ser­ve Board (FED), Je­ro­me Powell, noch am 4. März an­ge­kün­digt, dass eine Zins­er­hö­hung um 75 Ba­sis­punk­te nicht in Be­tracht ge­zo­gen würde, um dann am 15. Juni, also le­dig­lich drei Mo­na­te spä­ter, zäh­ne­knir­schend eine sol­che Er­hö­hung zu kom­mu­ni­zie­ren. Das Kon­zept der «For­ward Gui­dance» mag viel­leicht nütz­lich ge­we­sen sein, um eine De­fla­ti­on nach der Fi­nanz­markt­kri­se zu ver­hin­dern – für die Be­kämp­fung der In­fla­ti­on aber ist es un­taug­lich. Mit der zö­ger­li­chen Hal­tung in der In­fla­ti­ons­be­kämp­fung wird die Glaub­wür­dig­keit des FED, aber auch der Eu­ro­päi­schen Zen­tral­bank (EZB) ernst­haft ge­fähr­det. Man hat sich ko­los­sal ver­schätzt: Die vor­über­ge­hen­de In­fla­ti­on auf­grund von tem­po­rä­ren Ef­fek­ten mau­sert sich zu einem In­fla­ti­ons­schock. Mit In­fla­ti­ons­ra­ten von über acht Pro­zent ist nicht mehr zu spas­sen. Die Lohn-Preis-Spi­ra­le hat längst be­gon­nen.

Nicht so in der Schweiz. Die SNB wird nicht re­strin­giert von ihrer ver­gan­ge­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­po­li­tik. Sie hat immer ge­sagt, dass man bei Be­darf auf un­er­war­te­te Er­eig­nis­se re­agie­ren werde. Nur dank der Frei­heit, die Geld­po­li­tik bei Be­darf auch kurz­fris­tig an­zu­pas­sen, waren fun­da­men­ta­le Ent­schei­de über­haupt mög­lich. Die SNB über­rasch­te denn auch die Märk­te bei der Ein­füh­rung der Wech­sel­kurs­un­ter­gren­ze 2011 und eben­so bei deren Auf­he­bung 2015. Und jetzt tat sie es er­neut mit dem Zins­ent­scheid bei ver­gleichs­wei­se tie­fen In­fla­ti­ons­ra­ten und noch bevor die EZB ihren Leit­zins nach oben an­pass­te.

Ein über­ra­schen­der geld­po­li­ti­scher Ent­scheid ist zwar schlecht für die vor­über­ge­hen­de Pla­nungs­si­cher­heit der Un­ter­neh­men, der Kon­su­mie­ren­den und der Fi­nanz­märk­te. Be­son­ders Letz­te­re re­agie­ren je­weils ge­kränkt auf die Zu­mu­tung, ihre Stra­te­gi­en über Nacht an­zu­pas­sen zu müs­sen. Doch die wirk­lich wich­ti­ge Pla­nungs­si­cher­heit be­trifft die Frage, ob die Prei­se sta­bil blei­ben oder nicht. Eine mit über­ra­schen­den Ent­schei­den bei­be­hal­te­ne Preis­sta­bi­li­tät ist um Wel­ten bes­ser als eine kom­mu­ni­ka­tiv gut an­ge­kün­dig­te, aber hohe In­fla­ti­ons­ra­te.

In Kri­sen­zei­ten muss man rasch han­deln und auf neue Ent­wick­lun­gen re­agie­ren kön­nen, ohne sich um das «Ge­schwätz von ges­tern» küm­mern zu müs­sen. Die Glaub­wür­dig­keit einer Zen­tral­bank ist nicht davon ab­hän­gig, ob sie die Markt­teil­neh­mer um­sorgt und sie wie Scha­fe auf die Weide treibt. Ihre Glaub­wür­dig­keit ba­siert auf der Re­pu­ta­ti­on, ihrer pri­mä­ren Auf­ga­be, die Preis­sta­bi­li­tät zu wah­ren, je­der­zeit nach­zu­kom­men. Und hier macht die SNB einen guten Job – einen sehr viel bes­se­ren Job als die gros­sen Zen­tral­ban­ken. Bei den Ver­laut­ba­run­gen von FED und EZB hän­gen die Au­gu­ren den Vor­sit­zen­den je­weils an den Lip­pen wie Grou­pies einem Pop­star. Hier liebt man gros­ses Kino und ent­spre­chen­de Auf­trit­te. Doch der Er­folgs­aus­weis der SNB ist das Ge­währ­leis­ten der Preis­sta­bi­li­tät und nicht, ob sie von den Markt­teil­neh­mern ge­fei­ert wird.


FOKUS IN­FLA­TI­ON

Folge I: Ach­tung Gel­dil­lu­si­on – Der Fran­ken ist nicht mehr so stark wie 2015 

Folge II: Vier Grün­de für die re­kord­ho­he In­fla­ti­ons­ra­te in den USA

Folge III: «This time is dif­fe­rent» – wirk­lich?

Folge IV: Nicht neu­tral, son­dern ganz schön fies

Folge V: Die un­ab­hän­gi­ge SNB schlägt zu­rück

Folge VI: Wieso schlägt der Öl­preis­an­stieg nicht stär­ker auf die Schweiz durch?

Folge VII: Der Ukrai­ne-Krieg heizt die In­fla­ti­on an

Folge VIII: Der per­fek­te Sturm – so ent­steht eine Hy­per­in­fla­ti­on

Folge IX: Die Geld­po­li­tik der USA und der EZB – ein Spiel mit dem Feuer

Folge X: Ist die Tür­kei auf dem Weg zur Hy­per­in­fla­ti­on?

Fokus XI: Eine Zen­tral­bank muss die Märk­te über­ra­schen dür­fen

Fokus XII: «For­ward Gui­dance» – eine Me­di­zin mit Ne­ben­wir­kun­gen

Fokus XIII: Staats­prei­se ma­chen alles nur schlim­mer

Folge XIV: Rei­chen die Zins­er­hö­hun­gen zur Zäh­mung der Teue­rung?

Folge XV: Ist in den USA ein «Soft Lan­ding» mög­lich?

Folge XVI: Miet­zins­re­ge­lung er­schwert der SNB die Ar­beit