Fokus In­fla­ti­on I: Ach­tung Gel­dil­lu­si­on – der Fran­ken ist nicht mehr so stark wie 2015

Wir er­in­nern uns: Am 15. Ja­nu­ar 2015 hob die Schwei­ze­ri­sche Na­tio­nal­bank (SNB) die Wech­sel­kurs­un­ter­gren­ze zum Euro auf. Kurz­fris­tig sack­te der Euro-Kurs sogar unter die Pa­ri­tät und pen­del­te sich dann etwas über einem Fran­ken ein. Der Schock sass tief. Die Schwei­zer Un­ter­neh­men stöhn­ten unter der Last des über­be­wer­te­ten Fran­kens und muss­ten sich in kur­zer Zeit an die neue Wäh­rungs­si­tua­ti­on an­pas­sen. Nun scheint sich der Wech­sel­kurs wie­der in Rich­tung Pa­ri­tät zu ent­wi­ckeln. Wäre das für die Wirt­schaft so schlimm wie 2015?

Wir Öko­no­men ken­nen das Phä­no­men unter dem Be­griff der «Gel­dil­lu­si­on». Men­schen ori­en­tie­ren sich an den Prei­sen, die im Laden, im In­ter­net oder unter Ge­schäfts­part­nern fi­xiert sind. Sie ori­en­tie­ren sich auch an den ak­tu­el­len De­vi­sen­kur­sen oder an den pu­bli­zier­ten Zin­sen. Alle diese Grös­sen sind reine Ori­en­tie­rungs­hil­fen für eine Mo­ment­auf­nah­me. Wie eine Fo­to­gra­fie eine Szene fest­hält, kön­nen wir die Prei­se ver­schie­de­ner An­ge­bo­te zu einem be­stimm­ten Zeit­punkt ver­glei­chen.

Doch im Laufe der Zeit ver­än­dern sich die Re­la­tio­nen und die Prei­se in der Volks­wirt­schaft stei­gen ge­ne­rell an. Das nen­nen wir In­fla­ti­on. Wenn nun die In­fla­ti­on zehn Pro­zent und der Zins­satz Null be­trägt, ver­lie­ren die Spa­rer pro Jahr zehn Pro­zent, weil das Geld Ende des Jah­res ent­spre­chend we­ni­ger wert ist als zu Be­ginn. Der reale Zins, also der in­fla­ti­ons­be­rei­nig­te Zins, be­trägt in die­sem Bei­spiel also minus zehn Pro­zent. Und es sind diese rea­len Werte, die be­stim­men, was tat­säch­lich teuer ist und was nicht. Kon­kret: 2020 stie­gen die Löhne in der Schweiz im Durch­schnitt um 0,8 Pro­zent. Weil gleich­zei­tig die Prei­se pan­de­mie­be­dingt um 0,7 Pro­zent san­ken, stie­gen die rea­len Löhne um 1,5 Pro­zent. Ar­beit­neh­men­de konn­ten sich 2021 ent­spre­chend im Durch­schnitt 1,5 Pro­zent mehr Güter und Dienst­leis­tun­gen kau­fen als im Vor­jahr.

Sie fra­gen sich nun: Was hat denn das alles mit dem Wech­sel­kurs zu tun? Auch hier ver­ges­sen wir, dass sich die In­fla­ti­on über die Jahre be­merk­bar macht: Wenn die In­fla­ti­on in Deutsch­land stär­ker aus­fällt als in der Schweiz, wer­den un­se­re Ex­port­pro­duk­te in Deutsch­land bei gleich­blei­ben­dem Wech­sel­kurs bil­li­ger. Der Fran­ken wer­tet sich real ab. Und genau die­ses Phä­no­men kön­nen wir seit 2015 be­ob­ach­ten, denn die Prei­se im Euro-Raum haben stär­ker zu­ge­legt als in der Schweiz. 

So sind die Prei­se seit 2015 im Euro-Raum um über zehn Pro­zent und in der Schweiz um we­ni­ger als zwei Pro­zent ge­stie­gen. Mit an­de­ren Wor­ten be­trägt die In­fla­ti­ons­dif­fe­renz mehr als acht Pro­zent. 2015 spra­chen viele davon, dass man mit einem Wech­sel­kurs von 1.10 zum Euro «leben könne». Ma­chen wir also die Rech­nung: Wenn die Prei­se im Euro-Raum seit 2015 um mehr als acht Pro­zent stär­ker zu­ge­legt haben als in der Schweiz, dann hat sich der Wech­sel­kurs, mit dem «man leben kann», folg­lich auf 1.01 ver­scho­ben. Oder an­ders aus­ge­drückt: Der Fran­ken ist beim glei­chen De­vi­sen­wech­sel­kurs wie 2015 real schwä­cher ge­wor­den und die jüngs­te Auf­wer­tung be­deu­tet nichts an­de­res, als dass die In­fla­ti­ons­dif­fe­ren­zen nun stär­ker ein­ge­preist wer­den.

Was be­deu­tet die­ser Sach­ver­halt für die Zu­kunft? Wir müs­sen auf­pas­sen, dass wir nicht der Gel­dil­lu­si­on er­lie­gen. Die ak­tu­ell star­ken Preis­dif­fe­ren­zen zwi­schen dem Euro-Raum und der Schweiz wer­den sich frü­her oder spä­ter auch im Wech­sel­kurs nie­der­schla­gen. Und die SNB wird eine sol­che no­mi­nel­le Auf­wer­tung wohl ak­zep­tie­ren, weil sie nicht zu einer rea­len Auf­wer­tung des Fran­kens führt, son­dern le­dig­lich die In­fla­ti­ons­dif­fe­renz aus­gleicht. Ent­spre­chend soll­ten wir uns ge­dank­lich be­reits jetzt mit einem Wech­sel­kurs von 1:1 zum Euro an­freun­den. Er wird frü­her oder spä­ter Rea­li­tät wer­den. Und das wäre kein Drama für die Schwei­zer Wirt­schaft. 


Fokus In­fla­ti­on

Folge I: Ach­tung Gel­dil­lu­si­on – Der Fran­ken ist nicht mehr so stark wie 2015 

Folge II: Vier Grün­de für die re­kord­ho­he In­fla­ti­ons­ra­te in den USA

Folge III: «This time is dif­fe­rent» – wirk­lich?

Folge IV: Nicht neu­tral, son­dern ganz schön fies

Folge V: Die un­ab­hän­gi­ge SNB schlägt zu­rück

Folge VI: Wieso schlägt der Öl­preis­an­stieg nicht stär­ker auf die Schweiz durch?

Folge VII: Der Ukrai­ne-Krieg heizt die In­fla­ti­on an

Folge VIII: Der per­fek­te Sturm – so ent­steht eine Hy­per­in­fla­ti­on

Folge IX: Die Geld­po­li­tik der USA und der EZB – ein Spiel mit dem Feuer

Folge X: Ist die Tür­kei auf dem Weg zur Hy­per­in­fla­ti­on?

Fokus XI: Eine Zen­tral­bank muss die Märk­te über­ra­schen dür­fen

Fokus XII: «For­ward Gui­dance» – eine Me­di­zin mit Ne­ben­wir­kun­gen

Fokus XIII: Staats­prei­se ma­chen alles nur schlim­mer

Folge XIV: Rei­chen die Zins­er­hö­hun­gen zur Zäh­mung der Teue­rung?

Folge XV: Ist in den USA ein «Soft Lan­ding» mög­lich?

Folge XVI: Miet­zins­re­ge­lung er­schwert der SNB die Ar­beit