Von Schein­lü­cken und Sand­wich­län­gen

Geht es nach dem Wil­len un­se­res Bun­des­rats, soll unser Zi­vil­pro­zess­recht nicht nur mo­der­ni­siert und re­vi­diert wer­den, son­dern es sol­len auch In­stru­men­te des kol­lek­ti­ven Rechts­schut­zes ein­ge­führt wer­den: stark aus­ge­bau­te Ver­bands­kla­gen mit kos­ten­lo­sen Ver­fah­ren bis zu 500'000 Fran­ken und Grup­pen­ver­glei­che. Dies wäre ein Novum in un­se­rem Rechts­sys­tem.

Haben Sie sich schon mal über­legt, Ihren Bä­cker ein­zu­kla­gen, weil sein Sand­wich etwas kür­zer ist als von ihm an­ge­prie­sen? Oder ihren Le­bens­mit­tel­händ­ler, weil die Ver­pa­ckung sei­ner Snacks so ge­stal­tet ist, dass die Wraps grös­ser aus­se­hen, als sie es wirk­lich sind? In den USA sind sol­che Kla­gen oder deren An­dro­hung an der Ta­ges­ord­nung. Auch Kun­den, die wegen sol­cher Ba­ga­tel­len nie von sich aus den Rich­ter an­ru­fen wür­den, wer­den dort au­to­ma­tisch Par­tei in einer Sam­mel­kla­ge gegen ein Un­ter­neh­men. Die Kla­gen wer­den meist nicht etwa zum Schutz der Kon­su­men­ten ein­ge­reicht, son­dern viel­mehr, weil die An­wäl­te be­reits dann schon er­heb­li­che Sum­men kas­sie­ren kön­nen, wenn sie den Fall nicht wei­ter­ver­fol­gen und damit dem Be­klag­ten den Ärger eines ju­ris­ti­schen Klein­kriegs er­spa­ren. Im Vor­der­grund steht dabei, durch die mü­he­lo­se Bün­de­lung von klei­nen An­sprü­chen die per­fek­te Droh­ku­lis­se auf­zu­bau­en.

2015 waren Ha­cker in das Sys­tem des US-Kran­ken­ver­si­che­rers An­them ein­ge­drun­gen und hat­ten die Daten von 79 Mil­lio­nen Nut­zern ent­wen­det. Im Rah­men der dar­auf an­ge­streng­ten Sam­mel­kla­gen haben sich die Par­tei­en in einem Ver­gleich ge­ei­nigt: 115 Mil­lio­nen Dol­lar muss­te An­them zah­len, fast 38 Mil­lio­nen davon, gut ein Drit­tel, soll­ten al­lei­ne an die An­wäl­te gehen, was prompt ein wei­te­res Ge­richts­ver­fah­ren aus­lös­te.

Solch hor­ren­de Kos­ten für Kla­gen und Ver­glei­che schla­gen über­all auf, bei den Un­ter­neh­men, den Ge­rich­ten und letzt­lich ge­ra­de auch bei uns allen, die für die Droh­ku­lis­se ihren Namen her­ge­ben muss­ten, den Kon­su­men­tin­nen und Kon­su­men­ten.

Bis­lang sind uns in der Schweiz sol­che Ver­hält­nis­se glück­li­cher­wei­se er­spart ge­blie­ben. Der Schwei­zer Zi­vil­pro­zess ist ge­prägt davon, dass jeder sei­nen An­spruch selbst gel­tend ma­chen muss und das Ge­richt ähn­lich ge­la­ger­te Sach­ver­hal­te nicht ein­fach einer be­stimm­ten Kla­ge­grup­pe zu­ord­nen kann. Es braucht daher ein wirt­schaft­li­ches In­ter­es­se an einem Zi­vil­ver­fah­ren und die In­stru­men­ta­li­sie­rung der Masse für zwie­lich­ti­ge Ge­schäfts­mo­del­le wird ver­hin­dert. Doch genau dies soll sich nun nach dem Wil­len des Bun­des­rats än­dern.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, wenn jetzt aus­ge­rech­net auf Scha­den­er­satz­kla­gen spe­zia­li­sier­te An­wäl­te sich mit Verve dafür ein­set­zen, dass in der Schweiz sol­che Kla­ge­instru­men­te ein­ge­führt wer­den sol­len. Diese In­stru­men­te sind nicht nur ge­fähr­lich, son­dern auch un­nö­tig. Be­reits heute ist die ge­mein­schaft­li­che Durch­set­zung von An­sprü­chen mög­lich, wie bei­spiels­wei­se der ak­tu­el­le Fall gegen Volks­wa­gen vor dem Han­dels­ge­richt Zü­rich be­legt.

Die Ein­füh­rung von sys­tem­frem­den In­stru­men­ten – auch wenn sie klein­ge­re­det wer­den und ver­spro­chen wird, eine Ame­ri­ka­ni­sie­rung der Ver­hält­nis­se lies­se sich ver­hin­dern – ist ein ge­fähr­li­cher ers­ter Schritt in die fal­sche Rich­tung. Die Ent­wick­lung in an­de­ren Län­dern zeigt, dass die Ein­füh­rung des Grup­pen­ver­gleichs­ver­fah­rens als an­geb­lich «mil­des In­stru­ment» die ge­heg­ten Er­war­tun­gen nicht er­füll­te. In der Folge wur­den die Re­geln ver­schärft und sind nun mit den ver­pön­ten Sam­mel­kla­gen ver­gleich­bar.

Un­se­re Zi­vil­pro­zess­ord­nung hat sich in der Pra­xis be­währt; Lü­cken beim kol­lek­ti­ven Rechts­schutz be­ste­hen nicht. Wie jedes Ge­setz muss auch un­se­re Zi­vil­pro­zess­ord­nung von Zeit zu Zeit ak­tua­li­siert wer­den. An­pas­sun­gen sind dabei aber im Sinne der Rechts­si­cher­heit und ohne ideo­lo­gi­sche Prä­gung vor­zu­neh­men. Die Ein­füh­rung von sys­tem­frem­den In­stru­men­ten und die damit ver­bun­de­nen Ex­pe­ri­men­te an un­se­rem Rechts­sys­tem sind daher mit Nach­druck ab­zu­leh­nen.

Sandwich

 

Die­ser Ar­ti­kel wurde am 27.06.2018 in der NZZ ver­öf­fent­licht.