Fokus In­fla­ti­on X: Ist die Tür­kei auf dem Weg zur Hy­per­in­fla­ti­on?

Die ne­ga­ti­ven Aus­wir­kun­gen der In­fla­ti­on zei­gen sich der­zeit in der Tür­kei be­son­ders deut­lich. Of­fi­zi­ell wird die Preis­stei­ge­rung mit rund 70 Pro­zent an­ge­ge­ben. Die Kauf­kraft der Tür­kin­nen und Tür­ken schwin­det ra­sant. Die ak­tu­el­le Preis­ent­wick­lung könn­te sich in eine so­ge­nann­te Hy­per­in­fla­ti­on aus­wach­sen.

Das tür­ki­sche Sta­tis­tik­amt gab kürz­lich eine of­fi­zi­el­le In­fla­ti­ons­ra­te von 69.97 Pro­zent be­kannt. Damit ver­zeich­net das Land die mit Ab­stand höchs­te Teue­rung aller OECD-Staa­ten und wird nur von einer Hand­voll Län­der wie Ve­ne­zue­la oder Sudan noch über­bo­ten. Ge­mäss einem un­ab­hän­gi­gen For­schungs­in­sti­tut zur In­fla­ti­ons­mes­sung ENAG liegt die ef­fek­ti­ve In­fla­ti­on mit 156 Pro­zent sogar mehr als dop­pelt so hoch wie an­ge­ge­ben. Be­rech­tig­ter­wei­se stellt sich die Frage, ob die Tür­kei vor einer Hy­per­in­fla­ti­on steht. Eine Hy­per­in­fla­ti­on ent­steht, wenn die In­fla­ti­on da­von­ga­lop­piert und nicht mehr ge­stoppt wer­den kann, aus­ser mit einer glaub­wür­di­gen Wäh­rungs­re­form. Die wirt­schaft­li­chen Fol­gen sind de­sas­trös. Brei­te Be­völ­ke­rungs­schich­ten ver­ar­men.

Die wich­tigs­te Zutat für eine Hy­per­in­fla­ti­on ist die In­stru­men­ta­li­sie­rung der Zen­tral­bank durch die Po­li­tik. In der Tür­kei wer­den No­ten­ban­ker be­reits seit Län­ge­rem von der Po­li­tik be­drängt. Der tür­ki­sche Prä­si­dent Er­do­gan ist davon über­zeugt, dass hohe Zin­sen für die hohe In­fla­ti­on ver­ant­wort­lich sind. Zins­er­hö­hun­gen wür­den zu hö­he­ren Prei­sen füh­ren, was für ihn im Um­kehr­schluss be­deu­tet, dass die In­fla­ti­on mit Zins­sen­kun­gen zu be­kämp­fen sei. Eine fa­ta­le An­nah­me, die dia­me­tral zur em­pi­risch gut be­leg­ten öko­no­mi­schen Theo­rie steht. Um sei­nen Wil­len durch­zu­set­zen, ent­liess der Prä­si­dent al­lein seit 2019 drei Zen­tral­bank­vor­sit­zen­de, die seine An­sich­ten nicht in die Pra­xis um­set­zen woll­ten. Seit­her hat die tür­ki­sche Zen­tral­bank trotz hoher In­fla­ti­on 13 Zins­sen­kun­gen durch­ge­führt.

Jüngst ist auch die Staats­ver­schul­dung der Tür­kei stark ge­stie­gen, doch das Ni­veau ist im Ver­gleich zu an­de­ren Staa­ten mit rund 40 Pro­zent des Brut­to­in­land­pro­dukts (BIP) noch tief. Zum Ver­gleich: Grie­chen­land steht trotz Schul­den­ab­bau in den letz­ten Jah­ren bei über 200 Pro­zent. In­ter­es­sant ist hier­bei, dass die tür­ki­sche Zen­tral­bank wider Er­war­ten nicht in gros­sen Men­gen Staats­an­lei­hen ge­kauft hat. Denn ein sol­ches Ver­hal­ten ist bei ab­hän­gi­gen Zen­tral­ban­ken immer wie­der zu be­ob­ach­ten.

Durch wel­chen Kanal wird also das «ge­druck­te» Geld auf den Markt ge­bracht? Es sind in ers­ter Linie die öf­fent­li­chen Ban­ken. Diese staat­lich kon­trol­lier­ten Fi­nanz­in­sti­tu­te kom­men mitt­ler­wei­le für rund 40 Pro­zent der in­län­di­schen Staats­schul­den auf. Weil Kre­dit­neh­mer und Kre­dit­ge­ber gleich­sam vom Staat kon­trol­liert wer­den, ent­steht ein Go­ver­nan­ce-Pro­blem. Die Geld­men­ge M1 (das Geld, das sich in der Be­völ­ke­rung im Um­lauf be­fin­det) ist jüngst ent­spre­chend sehr stark ge­stie­gen. Dies vor allem, weil die Ban­ken den Wil­len des Prä­si­den­ten um­set­zen, durch gross­zü­gi­ge Kre­di­te die Wirt­schaft zu sti­mu­lie­ren. Ein Teil davon scheint auf den Kauf von Staats­an­lei­hen zu­rück­zu­ge­hen, je­den­falls ist die Kor­re­la­ti­on auf­fäl­lig.

Wie lange kann die­ses «Ex­pe­ri­ment» noch gut gehen? In­ner­halb eines Jah­res hat sich der Wert der tür­ki­schen Lira ge­gen­über dem US-Dol­lar etwa hal­biert. Wäh­rend in der Schweiz der Roh­stoff­preis­an­stieg durch eine star­ke Wäh­rung ab­ge­schwächt wird, ge­schieht in der Tür­kei ge­ra­de das Ge­gen­teil: Stei­gen­de Im­port­prei­se, kom­bi­niert mit der schwa­chen Wäh­rung, hei­zen die In­fla­ti­on zu­sätz­lich an. Er­schwe­rend kommt hinzu, dass viele Pri­va­te und vor allem Un­ter­neh­men Schul­den in Euro oder Dol­lar hal­ten, ihre Ein­nah­men aber in Lira er­wirt­schaf­ten. Durch die Ab­wer­tung der Lira drückt die Schul­den­last immer stär­ker.

Die In­fla­ti­on trifft die wenig Be­tuch­ten be­son­ders hart. Sie ver­fü­gen weder über Aus­land­ver­mö­gen noch Im­mo­bi­li­en oder an­de­re Sach­wer­te. Sie geben einen er­heb­li­chen Teil ihres Ein­kom­mens für Le­bens­mit­tel aus. Die Le­bens­mit­tel­in­fla­ti­on be­trägt ge­mäss dem tür­ki­schen Sta­tis­tik­amt 90 Pro­zent. Dies ist das Drei­fa­che des welt­wei­ten Le­bens­mit­tel­preis­in­de­xes der FAO. Auf­grund der star­ken In­fla­ti­on wer­den die Löhne so rasch als mög­lich in Fremd­wäh­rung um­ge­tauscht oder das Geld so­fort aus­ge­ge­ben. Die Lira wird wie eine heis­se Kar­tof­fel fal­len ge­las­sen. Au­gen­schein­lich zeigt sich das an den in­län­di­schen Ein­la­gen. Ge­mäss der tür­ki­schen Na­tio­nal­bank sind 70 Pro­zent aller in­län­di­scher Ein­la­gen ent­we­der in aus­län­di­scher Wäh­rung oder di­rekt daran ge­kop­pelt.

Die «Zu­ta­ten» für eine Hy­per­in­fla­ti­on schei­nen ge­ge­ben. Der «Point-of-no-re­turn» könn­te be­reits über­schrit­ten sein. Hof­fen wir für die tür­ki­sche Be­völ­ke­rung, dass es nicht so weit kommt.


FOKUS IN­FLA­TI­ON

Folge I: Ach­tung Gel­dil­lu­si­on – Der Fran­ken ist nicht mehr so stark wie 2015 

Folge II: Vier Grün­de für die re­kord­ho­he In­fla­ti­ons­ra­te in den USA

Folge III: «This time is dif­fe­rent» – wirk­lich?

Folge IV: Nicht neu­tral, son­dern ganz schön fies

Folge V: Die un­ab­hän­gi­ge SNB schlägt zu­rück

Folge VI: Wieso schlägt der Öl­preis­an­stieg nicht stär­ker auf die Schweiz durch?

Folge VII: Der Ukrai­ne-Krieg heizt die In­fla­ti­on an

Folge VIII: Der per­fek­te Sturm – so ent­steht eine Hy­per­in­fla­ti­on

Folge IX: Die Geld­po­li­tik der USA und der EZB – ein Spiel mit dem Feuer

Folge X: Ist die Tür­kei auf dem Weg zur Hy­per­in­fla­ti­on?

Fokus XI: Eine Zen­tral­bank muss die Märk­te über­ra­schen dür­fen

Fokus XII: «For­ward Gui­dance» – eine Me­di­zin mit Ne­ben­wir­kun­gen

Fokus XIII: Staats­prei­se ma­chen alles nur schlim­mer

Folge XIV: Rei­chen die Zins­er­hö­hun­gen zur Zäh­mung der Teue­rung?

Folge XV: Ist in den USA ein «Soft Lan­ding» mög­lich?

Folge XVI: Miet­zins­re­ge­lung er­schwert der SNB die Ar­beit