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Bi­la­te­ra­le I: Frag­wür­di­ge «Stu­die» be­haup­tet einen Wohl­stands­ver­lust

Heute hat eine SVP-nahe Stif­tung einen Be­richt des hier­zu­lan­de weit­ge­hend un­be­kann­ten In­sti­tuts Eu­ro­pe Eco­no­mics ver­öf­fent­licht. Auf knapp 100 Sei­ten wer­den be­kann­te In­for­ma­tio­nen an­ein­an­der­ge­reiht, aus be­ste­hen­den Stu­di­en ein­zel­ne Kenn­zif­fern ver­wen­det und dar­auf auf­bau­end ver­meint­li­che Schlüs­se über den Nut­zen der Bi­la­te­ra­len I ge­zo­gen. Der Be­richt mag den An­for­de­run­gen an eine wis­sen­schaft­li­che Un­ter­su­chung nicht zu ge­nü­gen. Zen­tra­le Aus­sa­gen sind nicht nach­voll­zieh­bar, und das Pa­pier ent­hält of­fen­sicht­li­che Feh­ler. Die Re­sul­ta­te ste­hen denn auch im Ge­gen­satz zu den bis­her ver­öf­fent­lich­ten Un­ter­su­chun­gen, die ins­ge­samt einen hohen Nut­zen der Bi­la­te­ra­len I auf­zei­gen.

Die zen­tra­le Aus­sa­ge, dass die Bi­la­te­ra­len I zu einem tie­fe­ren Brut­to­in­land­pro­dukt (BIP) pro Kopf ge­führt haben, ist auf­grund der An­ga­ben im Be­richt nicht nach­voll­zieh­bar. Die Re­chen­schrit­te wer­den nur un­ge­nü­gend do­ku­men­tiert, das Mo­dell wird nicht spe­zi­fi­ziert. Schein­bar wird ein syn­the­ti­sches Kon­traf­ak­tum durch ma­kro­öko­no­mi­sche Va­ria­blen an­de­rer Län­der er­stellt, das die BIP-Pro-Kopf-Ent­wick­lung in der Schweiz er­klä­ren soll. Wozu zu­sätz­lich zu den rea­len Va­ria­blen wie rea­les BIP, In­ves­ti­tio­nen, Kon­sum und Net­to­ex­por­ten auch die In­fla­ti­ons­ra­te in Pro­zent eine Rolle spie­len soll­te, ist nicht plau­si­bel. Reale Werte wer­den ver­wen­det, damit diese in­fla­ti­ons­be­rei­nigt sind. Wie sieht das Schätz­mo­dell aus, auf dem die bri­ti­schen Au­to­ren auf­bau­en? Wel­che Me­tho­de wurde ein­ge­setzt? Diese An­ga­ben wären nötig, um die Aus­sa­gen über­prü­fen und all­fäl­li­ge Feh­ler ent­de­cken zu kön­nen. Das Sze­na­rio scheint denn auch die Ent­wick­lung vor 2002 schlecht ab­zu­bil­den, wäre doch ge­mäss die­sem das BIP-pro-Kopf in der Schweiz 1980 rund 14 Pro­zent tie­fer als in Wirk­lich­keit aus­ge­fal­len. Unter die­ser Vor­aus­set­zung kann auch die Aus­sa­ge nicht stim­men, dass das BIP pro Kopf per 2018 um 4,1 Pro­zent tie­fer liege als ohne die Bi­la­te­ra­len.

Se­lek­ti­ve Aus­wahl führt zu fal­schen Schlüs­sen

Wei­te­re Haupt­aus­sa­gen der Stu­die wer­den auf­grund von se­lek­tiv aus­ge­wähl­ten Stu­di­en ab­ge­lei­tet. So wird be­haup­tet, die Re­al­löh­ne wären durch die Bi­la­te­ra­len unter Druck ge­kom­men und ge­sun­ken. Hier­zu wird se­lek­tiv eine Stu­die aus dem Jahr 2010 ver­wen­det, die zudem auf einer auf US-ame­ri­ka­ni­sche Ver­hält­nis­se zu­ge­schnit­te­nen Me­tho­de ba­siert, um mit deren Er­geb­nis­sen wei­ter­zu­rech­nen. Wie­der­holt haben neue­re Stu­di­en das Ge­gen­teil nach­ge­wie­sen: Die Bi­la­te­ra­len haben nicht dazu ge­führt, dass die Re­al­löh­ne in der Schweiz sin­ken.

Für die Schwei­zer Be­völ­ke­rung ist von In­ter­es­se, ob sie wegen der Mi­gra­ti­on aus den EU-/Efta-Staa­ten Lohn­ein­bus­sen ver­kraf­ten muss­te. Diese Frage be­trach­tet der Be­richt, indem un­ter­stellt wird, dass die aus­län­di­schen Zu­wan­de­rer mit we­ni­ger Ka­pi­tal­stock aus­ge­stat­tet sind als die ein­hei­mi­sche Be­völ­ke­rung. Diese Be­haup­tung ist pro­ble­ma­tisch, sind doch die aus­län­di­schen Di­rekt­in­ves­ti­tio­nen in der Schweiz in den letz­ten Jah­ren stark ge­stie­gen. Der Ka­pi­tal­stock ist stär­ker ge­wach­sen als die Be­völ­ke­rung. Die ge­sam­te Ar­gu­men­ta­ti­on, dass die Zu­wan­de­rung zu sin­ken­den In­ves­ti­tio­nen ge­führt habe, fällt in sich zu­sam­men, wenn die Zah­len be­trach­tet wer­den: We­sent­li­cher Grund für den Rück­gang ist die Fi­nanz­markt­kri­se 2009 und die schwie­ri­gen wirt­schaft­li­chen Jahre seit­her. Üb­ri­gens fin­det der Be­richt es un­nö­tig, die Wech­sel­kurs­pro­ble­ma­tik der letz­ten Jahre als mög­li­che Ur­sa­che für die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung der Schweiz in Be­tracht zu zie­hen.

Nach­weis­lich fal­sche An­nah­men

Der Be­richt ent­hält auch of­fen­sicht­li­che Feh­ler: Es wird davon ge­schrie­ben, dass das Schwei­zer BIP pro Kopf rund dop­pelt so hoch sei wie im EU-Durch­schnitt. Dabei ist die­ses kauf­kraft­be­rei­nigt ge­mäss ver­schie­de­nen Quel­len (Welt­bank, OECD) rund 50 bis 60 Pro­zent höher als im Schnitt der EU-Län­der. Oder die Ein­kom­men wären in den letz­ten Jah­ren in der Schweiz un­glei­cher ge­wor­den. Dies wird durch ver­schie­de­ne se­riö­se Un­ter­su­chun­gen ein­deu­tig wi­der­legt.

Auch Aus­sa­gen wie dass «… der durch­schnitt­li­che Ein­wan­de­rer we­ni­ger gut aus­ge­bil­det ist als der durch­schnitt­li­che Schwei­zer Er­werbs­tä­ti­ge» wer­fen einen Schat­ten auf die Ar­beit. Wahr ist: Ge­mäss allen ver­füg­ba­ren Sta­tis­ti­ken sind Zu­wan­de­rer, die im Rah­men der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit in die Schweiz kom­men, im Schnitt bes­ser qua­li­fi­ziert als die in­län­di­schen Er­werbs­tä­ti­gen. Ver­gleicht man hier fälsch­li­cher­wei­se etwa die ge­sam­te aus­län­di­sche Be­völ­ke­rung mit den Schwei­zer Er­werbs­tä­ti­gen?

Die In­iti­an­ten der Kün­di­gungs­in­itia­ti­ve ver­pas­sen es mit die­sem Mach­werk, auf wis­sen­schaft­li­cher Ebene über den Nut­zen der Bi­la­te­ra­len I zu de­bat­tie­ren. Das ist be­dau­er­lich.