Brexit: Auch für die Schweizer Wirtschaft weiterhin ein «moving target»
- Einleitung Das Wichtigste in Kürze | Position economiesuisse
- Kapitel 1 Gemischtes Bild beim Handel nach dem Brexit
- Kapitel 2 Brexit – Bestandesaufnahme einer Scheidung
- Kapitel 3 Anhaltende Unsicherheit für Schweizer Unternehmen
- Kapitel 4 Heisse Brexit-Eisen der Wirtschaft
- Kapitel 5 Politische Prioritäten aus Sicht der Schweizer Wirtschaft
Brexit – Bestandesaufnahme einer Scheidung
Nachdem Premierministerin Theresa May die EU im März 2017 formell über den Austritt informiert hatte, fokussierten sich die Verhandlungen in einer ersten Phase um drei zentrale Bereiche:
- Rechte britischer Bürger auf EU-Territorium und umgekehrt
- finanzielle Verpflichtungen Grossbritanniens gegenüber der EU
- Regelung für die Landesgrenze zwischen Irland und Nordirland
Obwohl sich beide Parteien bis im Dezember nicht in allen Punkten einigen konnten, stellte die EU am 15. Dezember 2017 fest, dass in den Verhandlungen ausreichend Fortschritte («sufficient progress») erzielt worden seien um die zweite Phase in Angriff zu nehmen. Im ersten Quartal 2018 galt es nun, erstens die Austrittsverhandlungen weiter voranzutreiben, zweitens eine Einigung über eine zeitlich befristete Übergangsregelung nach dem eigentlichen Brexit am 29. März 2019 zu erzielen und drittens erste Eckwerte des künftigen Verhältnisses festzulegen. Bereits auf dem Papier ist der Zeitplan äusserst eng. Verzögerungen oder Blockaden der Verhandlungen in den kommenden Wochen, etwa in der Irlandfrage, würden eine rechtzeitige Einigung zusätzlich erschweren.
Übergangsregelung, aber «nothing is agreed until everything is agreed»
Im Hinblick auf die Sitzung des EU-Rats vom 23. März 2018 einigten sich Grossbritannien und die EU nun auf zentrale Punkte der Übergangsregelung. Diese soll vom 30. März 2019 bis zum 31. Dezember 2020 dauern. Grossbritannien würde während dieser Übergangsphase weiterhin im Binnenmarkt und in der Zollunion verbleiben sowie unverändert Mitgliederbeiträge entrichten. Auch soll für diese Zeit der Europäische Gerichtshof und nicht der britische Supreme Court für Streitigkeiten zuständig sein. Grossbritannien wird zudem nicht mehr am Entscheidungsprozess in der EU teilnehmen – abgesehen von wenigen Ausnahmen.
Ebenfalls vorgesehen ist, dass sämtliche Rechte und Pflichten des Vereinigten Königreichs gegenüber Drittstaaten in dieser Zeit weiter bestehen. Darüber hinaus erhält die Insel die Kompetenz, während der Übergangsphase Verträge mit anderen Staaten auszuhandeln, zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Diese dürfen allerdings erst danach in Kraft treten. Dies gilt auch im Hinblick auf die Schweiz. Formelle Verhandlungen Grossbritanniens über das künftige Verhältnis zur Schweiz wären demzufolge ab dem 30. März 2019 erlaubt.
All dies unterliegt jedoch dem bedeutendem Vorbehalt, dass eine solche Übergangsregelung Teil der finalen Austrittsvereinbarung zwischen Grossbritannien und der EU ist. Dabei gilt der Grundsatz «nothing is agreed until everything is agreed». Insbesondere die Fragen der Streitbeilegung und der inneririschen Grenze sind in diesem Zusammenhang noch ungelöst und könnten deshalb zur eigentlichen Knacknuss werden. Nötig ist am Ende schliesslich die formelle Ratifikation der Austrittsvereinbarung durch den EU-Rat sowie die Parlamente Grossbritanniens und der Europäischen Union. Diese muss bis im Oktober 2018 vorliegen, um ausreichend Zeit für die Ratifikation bis am 29. März 2019 zu haben. Darüber hinaus sind bilaterale Vereinbarungen zwischen Grossbritannien und Drittstaaten erforderlich, um während der Übergangsphase auch diese bestehenden Abkommen weiterführen zu können. Bis diese vorliegen, kann sich die Wirtschaft nicht auf verbindliche Rahmenbedingungen nach dem Brexit stützen.
Grafik 4
Angesichts der komplexen Aufgaben, der noch offenen Punkte und des grossen Zeitdrucks ist weiterhin unklar, ob eine Einigung grundsätzlich innerhalb der zur Verfügung stehenden Frist erzielt werden kann. Ein ungeregeltes Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU bleibt als Worst-Case-Szenario somit bestehen.
Wenig Klarheit beim künftigen Verhältnis EU-UK
Noch unsicherer präsentiert sich das Bild betreffend das künftige Verhältnis zwischen der EU und Grossbritannien. Erste Eckwerte sollen bis Ende 2018 in Form einer politischen Deklaration festgehalten und während der Übergangsphase im Detail verhandelt werden. Verschiedene Ideen wurden hierzu bereits diskutiert. Die EU hat am 7. März 2018 einen ersten Entwurf ihrer diesbezüglichen Leitlinien veröffentlicht. Demnach käme basierend auf den bisherigen roten Linien der britischen Regierung (keine Zuständigkeit des EUGH, eigene Handelspolitik, keine Personenfreizügigkeit, begrenzter finanzieller Beitrag, regulatorische Unabhängigkeit) einzig ein umfangreiches Freihandelsabkommen infrage. Ein solches wurde jüngst mit Kanada ausgehandelt (CETA). Der Marktzugang für Finanzdienstleistungen soll überwiegend über Äquivalenzanerkennungsmechanismen erfolgen. Ein Freihandelsabkommen würde jedoch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zur Folge haben – ein Umstand, den beide Parteien mit Blick auf die innerirische Grenze eigentlich unbedingt vermeiden möchten. Die EU hat zwar – mit Verweis auf die Schweiz – unterstrichen, dass sektorspezifische Abkommen nicht akzeptabel sind («cherry-picking»). Allerdings signalisierte das EU-Parlament unter anderem in den Bereichen Luftfahrt, Fischerei, Forschung und Innovation, Energie und ICT eine gewisse Flexibilität.
Theresa May hat ihrerseits in ihrer Ansprache vom 2. März 2018 den Austritt Grossbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion bekräftigt, sich gleichzeitig aber auch für eine weitreichende gegenseitige Anerkennung (z.B. Luftfahrt, Pharma) von Standards ausgesprochen. Zusammen mit sektorspezifischen Arrangements und Vereinbarungen im Zollbereich soll so eine möglichst ambitionierte Vereinbarung gefunden werden, die Handelshemmnisse und negative wirtschaftliche Auswirkungen auf ein Minimum beschränkt.
Neue Handelshemmnisse wahrscheinlich
Eine Lösung dürfte jedoch betreffend Marktzugang, regulatorischer Konvergenz oder formellen Auflagen im grenzüberschreitenden Handel eine Schlechterstellung der Wirtschaftsbeziehungen Grossbritanniens mit der EU zur Folge haben – unabhängig davon, wie die Lösungen ausgestaltet sein werden. Insbesondere betreffend die Auswirkungen im Bereich der nicht-tarifären Handelshemmnisse sind exakte Prognosen allerdings schwierig.
Nachfolgende Tabelle zeigt in groben Zügen, welche Auswirkungen in Bezug auf Zölle, Grenzkontrollen und regulatorische Hürden bei unterschiedlichen Modellen zu erwarten sind. Bei einem harten Brexit (Rückfall auf WTO-Regeln) wären die negativen Konsequenzen in jedem Fall am grössten (höhere Zölle, aufwendige Grenzkontrollen, neue Hürden für Dienstleistungen sowie zusätzliche Kosten aufgrund drohender abweichender regulatorischer Entwicklungen).
Tabelle 2
EU geeint, britische Regierung innenpolitisch unter Druck
Nicht nur die inhaltlichen Positionen, sondern auch der Verlauf der bisherigen Verhandlungen zeigten auf beiden Seiten ein unterschiedliches Bild. Die EU demonstriert derzeit in den zentralen Punkten Einigkeit. Die Kommission wie auch das Parlament und die Mitgliedstaaten stützen die zentralen Forderungen der EU an Grossbritannien (u.a. kein Binnenmarktzugang à la carte, Unterstützung für die Anliegen Irlands, klare finanzielle Forderungen an Grossbritannien, keine Mitsprache während der Übergangsperiode). Allerdings ist nicht auszuschliessen, dass sich im Rahmen der Verhandlungen über das künftige Verhältnis zu Grossbritannien divergierende Interessen einzelner Mitgliedstaaten ergeben. Dies kann sowohl zu einer pragmatischeren Haltung wie auch zu neuen Problemen in der unionsinternen Entscheidfindung führen.
Demgegenüber steht die britische Premierministerin unter starkem innenpolitischen Druck – insbesondere im Hinblick auf die Verhandlungsposition zum künftigen Verhältnis mit der EU. Derzeit verfügt sie lediglich mit Unterstützung der nordirischen Unionistenpartei (Democratic Unionist Party) über eine hauchdünne Mehrheit im britischen Unterhaus. Gleichzeitig existieren in ihrer eigenen konservativen Partei und im Regierungskabinett Kräfte, die sich für einen raschen und kompromisslosen EU-Austritt aussprechen. Jüngst hat sich zudem die Labour-Partei hinter die Forderung der britischen Wirtschaft nach einer Zollunion mit der EU gestellt. Zumindest im Moment sieht es jedoch danach aus, dass von der Regierungsposition abweichende Optionen noch nicht über ausreichende Mehrheiten im britischen Parlament verfügen.