# 7 / 2024
13.11.2024

Kündigungsinitiative II: löst keine Probleme, schafft aber zahlreiche neue

Annahme der Kündigungsinitiative II bedeutet das Ende des bilateralen Erfolgswegs

Kündigung der Personenfreizügigkeit wird im Initiativtext explizit gefordert

  • Die Kündigung der Personenfreizügigkeit ist das eigentliche Ziel der Initiative. Im Initiativtext heisst es unmissverständlich, dass das Freizügigkeitsabkommen zwei Jahre nach der erstmaligen Überschreitung des Grenzwerts von zehn Millionen Menschen auf den nächstmöglichen Termin gekündigt werden muss.
  • Als Folge davon fällt das gesamte Paket der Bilateralen I mit der EU weg; also auch die Abkommen über Land- und Luftverkehr, Landwirtschaft, Forschung, öffentliches Beschaffungswesen und Abbau technischer Handelshemmnisse.
  • Denn gemäss der «Guillotine-Klausel» sind alle sieben Abkommen der Bilateralen I untrennbar miteinander verbunden. Wird eines der Abkommen gekündigt, fallen die anderen sechs automatisch auch weg.
  • Eine Annahme der Kündigungsinitiative II bedeutet somit das Ende des bilateralen Erfolgswegs der Schweiz mit der EU.

Die Initiative gefährdet auch die Abkommen von Schengen/Dublin

  • Von einer Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens sind auch die Verträge von Schengen/Dublin (Teil der Bilateralen II) betroffen. Denn bei den Verhandlungen über die Teilnahme der Schweiz am Schengen-Raum hatte die EU die Personenfreizügigkeit vorausgesetzt.
  • Ein Wegfall der Schengen/Dublin-Assoziierung hätte negative Auswirkungen auf die Reisefreiheit, den Tourismus und die Sicherheit in der Schweiz.
  • Eine Kündigung des Dublin-Abkommens gäbe beispielsweise jedem Migranten die Möglichkeit, nach einem abgewiesenen Asylgesuch in Europa in der Schweiz ein Zweitgesuch zu stellen.

Die Initianten haben keine gleichwertige Alternative zu den Bilateralen parat

  • Eine der grössten Schwachstellen der Initianten ist, dass sie keine gleichwertige Alternative zum Wegfall der Bilateralen vorschlagen. Das ist unverantwortlich.
  • Der bilaterale Weg hat sich für die Schweiz als massgeschneiderte Lösung jenseits von EU-Mitgliedschaft, EWR-Beitritt und der Isolation erwiesen. Er bietet der Schweiz die Möglichkeit, in ausgewählten Bereichen sektoriell am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen.
  • Dank der Bilateralen können wir unsere Souveränität, unsere direkte Demokratie und unseren Föderalismus bewahren und dennoch von den wirtschaftlichen Vorteilen des europäischen Binnenmarkts profitieren.

Die Binnenmarktteilnahme geht weit über ein Freihandelsabkommen hinaus

  • Eine Modernisierung des Freihandelsabkommens Schweiz-EU von 1972 kann einen Wegfall der bilateralen Verträge bei Weitem nicht kompensieren.
  • Fallen die Bilateralen I weg, würden zum Beispiel keine technischen Handelshemmnisse für Industrieprodukte mehr abgebaut, Luftverkehrsrechte wären nicht abgedeckt, Schweizer Früchte und Gemüse bräuchten eine zusätzliche Zertifizierung für den Export in den EU-Raum, Schweizer Spediteure könnten nicht von zusätzlichen Aufträgen aus der EU profitieren, Schweizer Firmen könnten nicht mehr gleichberechtigt an öffentlichen Ausschreibungen in Städten und Regionen in der EU teilnehmen und es wäre viel bürokratischer, Arbeitskräfte aus der EU zu rekrutieren. Zudem verliert die Schweizer Bevölkerung das Recht, überall im EU-Raum zu leben, zu arbeiten und zu studieren. Das ist nur eine kleine Auswahl an Beispielen.

Die Kündigungsinitiative II ist eine politische Zwängerei

  • Erst im September 2020 wurde die erste SVP-Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit (Kündigungsinitiative I) mit 61,7 Prozent Nein-Stimmen klar abgelehnt. Dass die SVP das gleiche Anliegen in neuer Verpackung innerhalb kurzer Zeit erneut an die Urne bringt, zeugt von einer Geringschätzung des Volkswillens.
  • Insgesamt hat die Schweizer Stimmbevölkerung den bilateralen Weg seit dem Jahr 2000 in elf Volksabstimmungen immer wieder bestätigt.
  • Zudem zeigen Umfragen, dass eine klare Mehrheit der Schweizer Bevölkerung von den Vorteilen der Bilateralen überzeugt ist (siehe aktuellste Europabefragung von Interpharma von 2024).

Massnahmen beim Familiennachzug gefährden die EMRK

Die Kündigungsinitiative II fordert, dass der Bundesrat Massnahmen beim Familiennachzug treffen muss, sollte die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz vor dem Jahr 2050 neuneinhalb Millionen Menschen überschreiten. Damit stellt die SVP das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens infrage, das in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert ist, welche die Schweiz 1974 ratifiziert hat. Diese zentrale Errungenschaft, die auch Schweizer Staatsangehörigen den Familiennachzug aus dem Ausland ermöglicht, sollte durch die Schweiz nicht gebrochen werden. Die Wiedereinführung des unmenschlichen Saisonnier-Statuts, das in der Schweiz von 1930 bis zur Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 herrschte, ist keine Option. Ein solcher Verstoss oder gar eine Kündigung der EMRK würde für die Schweiz zu einem massiven Reputationsschaden im Ausland führen.