Schul­den­brem­se: Un­ver­ständ­li­che Kri­tik der OECD

In ihrem jüngs­ten Län­der­be­richt zur Schweiz kri­ti­siert diese Or­ga­ni­sa­ti­on die Schul­den­brem­se. Im Fokus ste­hen unter an­de­rem die so­ge­nann­ten Kre­dit­res­te, die bud­ge­tiert, aber re­gel­mäs­sig nicht aus­ge­ge­ben wer­den. Durch eine An­pas­sung der Schul­den­brem­se könn­ten die Mit­tel ins Bud­get ein­ge­baut und die zu­läs­si­gen Aus­ga­ben um die­sen Be­trag er­höht wer­den. Ab­ge­se­hen von der Frage, ob die Ver­fas­sungs­grund­la­ge der Schul­den­brem­se eine sol­che An­pas­sung zu­lies­se: Was würde damit ge­won­nen?

Fol­gen­der Sach­ver­halt: Ein Jah­res­ein­kom­men von 100'000 Fran­ken; eine ge­naue Bud­get­pla­nung, die dafür sorgt, dass alle Aus­ga­ben be­zahlt wer­den kön­nen und am Jah­res­en­de die Rech­nung ge­ra­de auf­geht; Schul­den ma­chen ist ver­bo­ten, von frü­her be­steht noch immer ein Schul­den­berg, der nicht mehr wach­sen darf. Die Sache funk­tio­niert gut. Ende Jahr bleibt in der Regel ein klei­ner Rest­be­trag, 1000 Fran­ken, ein Bud­get­pro­zent. Das geht in den Schul­den­ab­bau. Im End­er­geb­nis: eine schwar­ze Null. Ein Haus­halt, der seine Fi­nan­zen der­art gut pla­nen und Ein­nah­men und Aus­ga­ben fast punkt­ge­nau ab­stim­men kann: Cha­peau!, würde man mei­nen (das Thema Spa­ren spielt für das Bei­spiel keine Rolle).

Nun aber kommt der Fi­nanz­be­ra­ter. Er spricht von Op­ti­mie­rung und ver­pass­ten Chan­cen. Die 1000 Fran­ken könn­ten für Bes­se­res als den Schul­den­ab­bau ein­ge­setzt wer­den. Zum Bei­spiel für In­ves­ti­tio­nen, für neue Pro­jek­te. Und so wird es flugs be­schlos­sen. Das Haus­halts­bud­get wird um die 1000 Fran­ken von nun an auf­ge­stockt, die Mit­tel wer­den ver­teilt, am An­fang herrscht Freu­de, bald aber ist die Auf­sto­ckung ver­ges­sen, eine schwar­ze Null re­sul­tiert noch immer, aber für den Schul­den­ab­bau fehlt jetzt das Geld.

Der Haus­halt ist jener des Bun­des, der Fi­nanz- (oder bes­ser: Po­li­tik-)be­ra­ter ist die OECD. In ihrem jüngs­ten Län­der­be­richt zur Schweiz kri­ti­siert diese Or­ga­ni­sa­ti­on die Schul­den­brem­se. Im Fokus ste­hen unter an­de­rem die so­ge­nann­ten Kre­dit­res­te, Mit­tel im Um­fang von etwa 800 Mil­lio­nen Fran­ken (ein Pro­zent des Bun­des­haus­halts), die bud­ge­tiert, aber re­gel­mäs­sig nicht aus­ge­ge­ben wer­den. Durch eine An­pas­sung der Schul­den­brem­se könn­ten die Mit­tel ins Bud­get ein­ge­baut und die zu­läs­si­gen Aus­ga­ben um die­sen Be­trag er­höht wer­den. Ab­ge­se­hen von der Frage, ob die Ver­fas­sungs­grund­la­ge der Schul­den­brem­se eine sol­che An­pas­sung zu­lies­se: Was würde damit ge­won­nen?

Eine An­pas­sung der Schul­den­brem­se würde die Mög­lich­kei­ten für den wei­te­ren Schul­den­ab­bau be­schnei­den.

Wenig. Ers­tens baut der Bund mit nicht ver­wen­de­ten Mit­teln Schul­den ab, was ihm gut­ge­tan hat und wei­ter­hin gut­tun wird. Zwar ist die Bun­des­ver­schul­dung si­gni­fi­kant ge­rin­ger als bei Ein­füh­rung der Schul­den­brem­se vor 15 Jah­ren, aber mit knapp 100 Mil­li­ar­den Fran­ken noch immer be­acht­lich. Der Schul­den­ab­bau führt zu Ein­spa­run­gen beim Schul­den­dienst und macht Mit­tel frei, die dau­er­haft für an­de­re Auf­ga­ben ver­wen­det wer­den kön­nen. Eine An­pas­sung der Schul­den­brem­se würde die Mög­lich­kei­ten für den wei­te­ren Schul­den­ab­bau be­schnei­den.

Zwei­tens wäre zu fra­gen, was beim Bund mit den zu­sätz­li­chen Mit­teln getan würde. Die OECD spricht von mehr «öf­fent­li­chen In­ves­ti­tio­nen» und nennt bei­spiel­haft neue För­der­mass­nah­men in den Be­rei­chen ex­ter­ne Kin­der­be­treu­ung, Gleich­be­rech­ti­gung und Hu­man­ka­pi­tal. Dass man das in Bun­des­bern gleich sehen würde, scheint frag­lich. So wird um die Kin­der­be­treu­ung be­kannt­lich ge­ra­de wie­der ein hef­ti­ger ideo­lo­gi­scher Kampf ge­führt. An­de­rer­seits zeigt aber die Krip­pen­fi­nan­zie­rung (wo der Bund seit Jah­ren ent­ge­gen allen fö­de­ra­lis­ti­schen Grund­sät­zen «be­fris­te­te» An­schub­hil­fen leis­tet), dass, wo ein po­li­ti­scher Wille ist, auch das Geld fliesst, und zwar ganz im Rah­men der Schul­den­brem­se.

Wenn die OECD zu tiefe staat­li­che In­ves­ti­tio­nen be­klagt, wäre dar­auf hin­zu­wei­sen, dass die Rolle des Pri­vat­sek­tors hier­zu­lan­de in ver­schie­de­nen Be­rei­chen deut­lich stär­ker ist als an­ders­wo.

Drit­tens wäre auch das Staats­ver­ständ­nis der OECD zu hin­ter­fra­gen. Wenn die OECD zu tiefe staat­li­che In­ves­ti­tio­nen be­klagt, wäre dar­auf hin­zu­wei­sen, dass die Rolle des Pri­vat­sek­tors hier­zu­lan­de in ver­schie­de­nen Be­rei­chen deut­lich stär­ker ist als an­ders­wo. Ein Bei­spiel ist der Be­reich For­schung und Ent­wick­lung, wo Pri­vat­in­ves­ti­tio­nen über­wie­gen. Auch in der Al­ters­vor­sor­ge oder der Be­rufs­bil­dung hat der Staat noch immer nicht das­sel­be Ge­wicht wie viel­fach im Aus­land. Dass darum we­ni­ger «in­ves­tiert» würde, ist alles an­de­re als er­sicht­lich, eher trifft das Ge­gen­teil zu.

Wei­te­re Ar­gu­men­te wären an­zu­füh­ren. Etwa, dass eine ein­pro­zen­ti­ge Bud­ge­tun­ter­schrei­tung keine Ka­ta­stro­phe dar­stellt, son­dern eben eine Punkt­lan­dung. Oder dass Bud­ge­tun­ter­schrei­tun­gen sinn­voll sind, weil da­durch ein fi­nan­zi­el­ler Spiel­raum ge­schaf­fen wer­den kann, der manch­mal ganz nütz­lich ist (zum Bei­spiel im nächs­ten Jahr, wenn es gilt, die AHV-Steu­er-Vor­la­ge um­zu­set­zen). Eine Gra­fik im OECD-Be­richt sagt letzt­lich alles. Sie zeigt die Ent­wick­lung der Staats­ver­schul­dung in der OECD im Durch­schnitt der Staa­ten und in der Schweiz seit 1995. Bis 2005 stieg die Staats­ver­schul­dung der Schweiz im Ver­hält­nis zum Brut­to­in­land­pro­dukt (Schul­den­quo­te) zehn Jahre lang stark an und über­traf am Ende mit über 60 Pro­zent sogar den OECD-Mit­tel­wert. 2006 wurde die Schul­den­brem­se voll ein­ge­führt. Seit­her sinkt die Ver­schul­dung der Schweiz, in der OECD ist sie ge­stie­gen, als Folge der Fi­nanz- und Wirt­schafts­kri­se sogar mar­kant. Heute liegt die Schwei­zer Schul­den­quo­te mit 40 Pro­zent ge­ra­de noch auf der Hälf­te des OECD-Werts. Man darf fra­gen: Was bringt die OECD dazu, in die­ser Si­tua­ti­on aus­ge­rech­net die Schul­den­brem­se zu kri­ti­sie­ren?

Die­ser Blog­bei­trag ist am 15.11.2019 in der «NZZ» er­schie­nen.