Anwaltsarchiv, vollgestellt mit Akten

Sam­mel­kla­gen: An­walts­ar­beit ist keine Mas­sen­wa­re

«Zu viel Eis im Eis­kaf­fee» – Schlag­zei­len zu Sam­mel­kla­gen gegen Un­ter­neh­men sor­gen für Hei­ter­keit. Bei der Über­nah­me von Rechts­in­sti­tu­ten aus den USA ist aber Vor­sicht ge­bo­ten.

Alle haben wir schon mal den Kopf ge­schüt­telt über Me­di­en­be­rich­te zu den für unser Rechts­emp­fin­den ab­stru­sen Kla­gen, die in den kla­ge­freund­li­chen USA re­gel­mäs­sig gegen Un­ter­neh­men er­ho­ben wer­den: Zu viel Eis im Eis­kaf­fee bei Star­bucks oder zu kurze «Foot­long-Sand­wi­ches» bei der Sand­wich­ket­te Sub­way. Die recht­li­chen Skur­ri­li­tä­ten aus den USA mögen uns er­stau­nen, be­lus­ti­gen oder lang­wei­len. For­de­run­gen nach der Über­nah­me von Rechts­in­sti­tu­ten aus den USA wur­den in Eu­ro­pa bis­her je­den­falls zu Recht mit Vor­sicht be­geg­net.

Den­noch ist die EU in ihren Be­ra­tun­gen zur Ein­füh­rung einer eu­ro­päi­schen Sam­mel­kla­ge be­reits weit fort­ge­schrit­ten. Eu­ro­päi­sche Un­ter­neh­men be­zwei­feln, dass die­ser Vor­schlag den Ver­brau­chern etwas bringt. Viel­mehr sehen sie ein gutes Ge­schäft für An­wäl­te und be­fürch­ten einen An­stieg miss­bräuch­li­cher Rechts­strei­tig­kei­ten, wenn ame­ri­ka­ni­sche An­walts­kanz­lei­en ihre In­stru­men­te in Eu­ro­pa ein­set­zen wol­len. Die deut­schen Wirt­schafts­ver­bän­de haben sich Ende letz­ten Jah­res gegen die Ein­füh­rung einer eu­ro­päi­schen Sam­mel­kla­ge ge­wehrt und sich ge­gen­über der Bun­des­re­gie­rung be­sorgt zum neuen eu­ro­päi­schen Richt­li­ni­en­ent­wurf ge­äus­sert. Die an das ame­ri­ka­ni­sche Recht an­ge­lehn­ten Sam­mel­kla­ge­instru­men­te im ge­nann­ten eu­ro­päi­schen Ent­wurf wür­den einer «un­ge­hemm­ten Kom­mer­zia­li­sie­rung des Rechts» und der Er­press­bar­keit von klei­nen und mitt­le­ren Un­ter­neh­men den Weg bah­nen. Damit werde einer Kla­ge­in­dus­trie, wie sie die USA ken­nen, Tür und Tor ge­öff­net.

Kurz vor Weih­nach­ten hat das Han­dels­ge­richt Zü­rich eine Scha­den­er­satz­kla­ge der Stif­tung für Kon­su­men­ten­schutz gegen die VW-Im­por­teu­rin Amag und VW ab­ge­wie­sen, da der Stif­tung für Kon­su­men­ten­schutz als Klä­ge­rin die Pro­zess­fä­hig­keit fehle. Ge­mäss Me­di­en­be­rich­ten gehe es nicht an, dass sich die Stif­tung als «In­kass­ove­hi­kel» für rund 6000 Au­to­be­sit­zer zur Ver­fü­gung stel­le. Sie gehe damit ein er­heb­li­ches Ri­si­ko ein, das durch ihren Stif­tungs­zweck nicht ab­ge­deckt sei. Der Stif­tung fehle für die­sen kon­kre­ten Fall die Hand­lungs­fä­hig­keit. Das Ur­teil ist noch nicht rechts­kräf­tig, erst die aus­führ­li­che Ur­teils­be­grün­dung des Han­dels­ge­richts wird eine Ana­ly­se in zi­vil­pro­zes­sua­ler Hin­sicht zu­las­sen.

Lau­ter Ruf nach Sam­mel­kla­gen

Be­reits bevor sie in pro­zes­sua­ler Hin­sicht vor ers­ter In­stanz un­ter­le­gen waren, prie­sen Kon­su­men­ten­schüt­zer in der Schweiz neu ein­zu­füh­ren­de Sam­mel­kla­gen als «rechts­po­li­ti­sches Heil­mit­tel» an. Diese alt­be­kann­ten Rufe nach Ein­füh­rung von In­stru­men­ten des kol­lek­ti­ven Rechts­schut­zes in der Schweiz dürf­ten nun kaum lei­ser wer­den. In den USA, dem Mut­ter­land der Sam­mel­kla­gen, füh­ren Letz­te­re eher sel­ten zum Pro­zess. Statt­des­sen ma­chen die Klä­ger­an­wäl­te hor­ren­de For­de­run­gen gel­tend, damit sie höchst lu­kra­ti­ve Ver­glei­che zu­las­ten der Un­ter­neh­men schlies­sen kön­nen. Der be­kann­te US Su­pre­me Court-Rich­ter An­to­nin Sca­lia mein­te denn auch ein­mal poin­tiert, dass nicht An­wäl­te, son­dern In­ge­nieu­re und Leh­rer einem Land Fort­schritt und Wohl­stand brin­gen wür­den.

Es ist zu hof­fen, dass der Bun­des­rat mit der bald er­war­te­ten Bot­schaft zur Än­de­rung der Zi­vil­pro­zess­ord­nung nicht an den Grund­fes­ten un­se­rer be­währ­ten Rechts­ord­nung rüt­telt und für den schwei­ze­ri­schen Wirt­schafts­stand­ort schäd­li­che In­stru­men­te des kol­lek­ti­ven Rechts­schut­zes ein­füh­ren will. Es ist be­reits heute unter dem be­ste­hen­den schwei­ze­ri­schen Zi­vil­pro­zess­recht mög­lich, Rechts­su­chen­de gut zu schüt­zen. Im Vor­ent­wurf zur Än­de­rung der Zi­vil­pro­zess­ord­nung sind zudem noch wei­ter­ge­hen­de Ver­bes­se­run­gen im In­ter­es­se der Klä­ger vor­ge­se­hen, bei­spiels­wei­se Ver­ein­fa­chun­gen zur Kla­gen­häu­fung und zur ein­fa­chen Streit­ge­nos­sen­schaft. Soll­te das neu ge­wähl­te Par­la­ment die Auf­fas­sung der Wirt­schaft nicht tei­len und der An­sicht sein, die In­ter­es­sen von kol­lek­tiv Rechts­su­chen­den seien noch wei­ter aus­zu­bau­en, so wären zu­nächst zu­kunfts­ge­rich­te­te und mit un­se­rer Rechts­kul­tur bes­ser zu ver­ein­ba­ren­de An­sät­ze wie die Aus­wei­tung von Schlich­tungs- oder Om­buds­ver­fah­ren zu prü­fen.

Eine Mil­li­on An­wäl­te

Keine Lö­sung stellt je­den­falls die Ein­füh­rung von – auch als noch so milde prä­sen­tier­ten – In­stru­men­ten des kol­lek­ti­ven Rechts­schut­zes dar. Diese sind stets stark miss­brauchs­an­fäl­lig und för­dern eine für ein Land in jeder Hin­sicht un­er­wünsch­te Kla­ge­in­dus­trie. Der Vor­ent­wurf zur Än­de­rung der Zi­vil­pro­zess­ord­nung sieht eine Kom­bi­na­ti­on von Grup­pen­ver­gleich und Ver­bands­kla­ge­recht vor, was bei­spiel­lo­se Macht­spie­le zu­las­ten von Un­ter­neh­men er­mög­licht. Eine damit ein­her­ge­hen­de «Kom­mer­zia­li­sie­rung des Rechts» ist dem Fort­schritt in un­se­rem Land nicht dien­lich. Hinzu kommt, dass die zu er­war­ten­den neuen Pro­zess- und Ver­gleichs­kos­ten­ri­si­ken über die Prei­se auf Kon­su­men­ten ab­ge­wälzt wür­den. Dies träfe die Kon­su­men­ten emp­find­lich. Auch für sie sind Sam­mel­kla­gen nicht gra­tis zu haben.

Wenn Sam­mel­kla­gen also weder im In­ter­es­se der Wirt­schaft, noch im In­ter­es­se der Kon­su­men­ten lie­gen, in wes­sen In­ter­es­se sind sie dann? Am bes­ten be­ant­wor­tet der so­zi­al­kri­ti­sche ame­ri­ka­ni­sche Folk­sän­ger Tom Pax­ton diese Frage. Er be­fürch­te­te be­reits 1985 in einem Lied, dass in den USA in­ner­halb eines Jahr­zehnts «One Mil­li­on La­wy­ers» tätig sein wür­den, was er als nicht eben för­der­lich für das Wohl des Lan­des ansah – ent­spre­chend be­ti­tel­te er sein Album «One Mil­li­on La­wy­ers and Other Di­sas­ters». In der Schweiz pflegt der An­walts­stand auch heute noch ein tra­di­tio­nel­les Ver­ständ­nis. Der An­walt will das Beste für den Kli­en­ten und nicht für sich selbst her­aus­ho­len. Wenn auch unter un­se­ren An­wäl­ten zahl­rei­che kri­ti­sche Stim­men gegen eine un­ge­hemm­te Kom­mer­zia­li­sie­rung des Rechts zu hören sind, macht das hell­hö­rig. Sie stel­len ihren Be­rufs­stolz ins Zen­trum und wün­schen kein Recht «à l’ame­ri­cai­ne» samt sei­nen ne­ga­ti­ven Aus­wüch­sen.

 

Die­ser Ar­ti­kel wurde am 27. Ja­nu­ar 2020 in der «NZZ» ver­öf­fent­licht.

 

Zum dos­sier­po­li­tik "Sam­mel­kla­gen: kaum Nut­zen, viele Ge­fah­ren"