Sollen Schweizer Wirtschaftssanktionen weiter gehen als die der EU und der UNO?
Der Nationalrat hat ein Embargogesetz beschlossen, mit dem er eigenständige Wirtschaftssanktionen der Schweiz stark ausbauen will. Solche, lediglich von einem einzigen Land ergriffene und international nicht koordinierte Sanktionen werden jedoch weitgehend wirkungslos bleiben. Eigenständige Wirtschaftssanktionen setzen zunächst einen Nachrichtendienst voraus, der die notwendigen Informationen unabhängig beschaffen, validieren und auswerten kann. Diesen hat die Schweiz nicht. Zudem ist die Schweiz in Wirtschaftssanktionen keine Grossmacht. Und schliesslich ist die Vorlage auch nicht in die bisherige Neutralitätspolitik eingebettet. Sie kommt demnächst in den Ständerat.
Das vom Nationalrat verabschiedete Embargogesetz ebnet den Weg für einen starken Ausbau eigenständiger Wirtschaftssanktionen der Schweiz. Solche Sanktionen sind grundsätzlich kritisch zu hinterfragen. Die Wirkung von Wirtschaftssanktionen hängt direkt davon ab, wie viele Staaten diese mittragen. Isolierte Wirtschaftssanktionen eines Landes in der Gewichtsklasse der Schweiz sind so gut wie wirkungslos, da sie leicht umgangen werden können. Dieser Tatsache trägt die Vorlage in keiner Weise Rechnung. Auch andere zentrale Fragen fanden in der von der Tagesaktualität geprägten Dynamik der Parlamentsdebatte kaum Beachtung.
Fehlende Einbettung in die Neutralitätspolitik der Schweiz
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist ein Umbruch von geopolitischer Tragweite. Dieser neuen Ausgangslage muss sich auch die Schweiz als neutrales Land stellen. Jede Generation musste die Neutralität auf die jeweiligen aussenpolitischen Entwicklungen ausrichten. So auch im aktuellen Fall. Der politische Diskurs und die Arbeiten auf Bundesebene stehen aber noch ganz am Anfang. Das Embargogesetz ist Teil der Neutralitätspolitik und sollte weitreichende Entscheidungen nicht vorwegnehmen. Dies gilt besonders bei der Frage der eigenständigen Sanktionen. So ist grundsätzlich zu prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Schweiz eigenständige Wirtschaftssanktionen ergreifen soll, die weiter gehen als diejenigen der EU oder der UNO. Je nach Ausmass solcher Sanktionsmassnahmen könnte die Staatengemeinschaft die Neutralität der Schweiz nicht mehr anerkennen wollen.
Weil die Vorlage explizit die Berücksichtigung der Massnahmen wichtiger Handelspartner vorschreibt, ergeben sich für die Schweiz neue aussenpolitische Konfliktpotenziale: So können wichtige Handelspartner Druck aufsetzen und von der Schweiz «eigenständige» Sanktionsmassnahmen in ihrem Sinne einfordern. Auch dies wäre unvereinbar mit der Neutralitätspolitik. Der Entwurf weist zudem einen Zielkonflikt auf: Gerade die Berücksichtigung der Massnahmen der Handelspartner widerspricht dem Ziel «eigenständiger» Massnahmen.
Schwierige Voraussetzungen auf Verwaltungsseite
Sollte die Schweiz einzelne Personen oder Organisationen mit eigenständigen Wirtschaftssanktionen belegen, braucht unser Land neu einen eigenen Apparat zur unabhängigen Informationsbeschaffung und -auswertung. Ebenso sind für die Umsetzung eigenständiger Massnahmen zusätzliche administrative Ressourcen erforderlich. Gerade die jüngsten Erfahrungen mit dem russischen Angriffskrieg haben gezeigt, wie gross der Aufwand zur Vorbereitung und Umsetzung von Wirtschaftssanktionen tatsächlich ist. Es wäre daher zu begrüssen, wenn auch die verwaltungsseitigen Voraussetzungen näher geprüft werden. Zum Vergleich ist der «nur» auf Sicherheit ausgerichtete Nachrichtendienst mit über 400 Angestellten zu erwähnen. Ein global ausgerichteter Nachrichtendienst müsste wohl neben wirtschaftlichen Verflechtungen auch Verstösse gegen Kriegs- und Menschenrechte erfassen, validieren und auswerten können – und zwar eigenständig und weltumspannend.
Absehbare Retorsionsmassnahmen
Eine Aussenpolitik mit eigenständigen Wirtschaftssanktionen der Schweiz dürfte seitens der betroffenen Länder mit Retorsionsmassnahmen quittiert werden. Weil die Schweiz weder EU- noch Nato-Mitglied ist, könnten solche Retorsionsmassnahmen zum Teil massiv ausfallen. Somit haben isolierte Massnahmen ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis für die Landesinteressen der Schweiz. Anders bei international koordinierten Sanktionsmassnahmen. Hier sind die Erfolgschancen deutlich grösser und für die betroffenen Zielstaaten lohnen sich isolierte Massnahmen gegen ein einzelnes Land nicht.
Nicht das gute Gefühl, sondern die Wirkung ist ausschlaggebend
Wirtschaftssanktionen sind ein ‒ möglichst nur in schwerwiegenden Fällen einzusetzendes ‒ Instrument zur Durchsetzung aussenpolitischer Interessen. Sie wirken in der Regel auf mittlere bis längere Frist, wenn möglichst viele Staaten geschlossen auftreten. Isolierte Wirtschaftssanktionen einzelner Staaten wie der Schweiz wirken hingegen kaum. Sie haben bestenfalls eine politische Symbolkraft. Realpolitik sollte jedoch gerade bei Sanktionen aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht dem guten Gefühl dienen, sondern die gewünschte Wirkung erzielen. Mit isolierten Wirtschaftssanktionen wird die Schweiz keine Änderungen bei den betroffenen Staaten bewirken, sie exponieren unser Land jedoch gegenüber Retorsionsmassnahmen. Das sind die Hauptgründe, die für eine deutliche Korrektur des vorliegenden Entwurfs sprechen.
Dieser Meinungsbeitrag wurde erstmals am 4. August in der «NZZ» publiziert.