# 02 / 2018
09.02.2018

Digitalisierung – Herausforderungen und Chancen für die Schule

Erforderliche Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft

Vorbereitung auf das Unbekannte

Die wichtigste Konstante der wirtschaftlichen Entwicklung seit der industriellen Revolution ist der Wandel. Unternehmen wachsen und schrumpfen, werden gegründet und gehen in Konkurs oder werden von der Konkurrenz übernommen. In den letzten 150 Jahren sind ganze Branchen neu entstanden und auch wieder verschwunden. Trotzdem blieb die Arbeitslosigkeit in der Schweiz tief und die Zahl der Beschäftigten und der Wohlstand sind kräftig gestiegen. Das Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung schreibt diese Geschichte fort: Neue Unternehmen treten auf dem Markt auf, andere verlieren ihre Daseinsberechtigung. Gewissheit gibt es nur in einem Punkt: Morgen wird schon wieder alles anders sein. Doch deswegen dürfen wir nicht in Zukunftsangst erstarren. Auch die vierte industrielle Revolution bietet gewaltige Chancen, gerade für die hoch entwickelte Schweizer Volkswirtschaft.

Welche Tätigkeiten aber morgen gefragt sein werden, welche Berufsbilder neu entstehen und welche verschwinden, welche Branchen wachsen und welche schrumpfen werden, ist kaum vorauszusagen. Gemäss einem Bonmot sollen 65 Prozent der Kinder, die heute mit der Primarschule beginnen, künftig in Jobs und Funktionen arbeiten, die es heute noch nicht gibt. Die Genauigkeit dieser Prognose ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass wir mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, dass sich die Berufsprofile ständig ändern. Damit einher geht, dass spezifisches Fachwissen rasch veraltet und dass die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens weiter stark an Bedeutung gewinnt.

Diese Einsicht hat tief greifende Konsequenzen für die Bildung und Ausbildung. Es gilt, die Kinder und Jugendlichen auf eine unbekannte Zukunft vorzubereiten. Nicht wenige schliessen aus dieser fast schon trivialen Feststellung, dass es obsolet sei, den Schülerinnen und Schülern heute noch Wissen beizubringen. Man argumentiert: Wenn wir nicht wissen, was wir morgen wissen müssen, brauchen wir auch kein Fachwissen zu erlernen. Wichtig sei nur zu lernen, wo das Wissen im Bedarfsfall abgeholt werden kann. Diese Folgerung ist jedoch in zweifacher Hinsicht falsch und gefährlich: Erstens benötigt jeder Mensch ein gewisses Grundlagenwissen, um Informationen, mit denen er konfrontiert wird, überhaupt einordnen zu können. Erst der Abgleich mit dem bereits vorhandenen Grundgerüst ermöglicht es ihm zu entscheiden, ob es sich um eine glaubwürdige, nachvollziehbare und relevante Information handelt oder nicht. Zweitens entsteht das Wissen von morgen nicht aus dem Nichts, sondern entwickelt sich aus dem Wissen von heute. Wer in neue Höhen vorstossen will, braucht ein breites, stabiles Fundament.

Im Folgenden gehen wir kurz der Frage nach, welche Art von Qualifikationen künftig gefragt sein wird. Daraus werden wir einige allgemeine Folgerungen für die Schule ableiten.

Digitalisierung kurz erklärt

In der digitalen Welt werden Abbildungen von physischen Objekten, Ereignissen oder analogen Medien digital abgebildet. Analoge Information wird dabei in exakte Werte von 0 und 1 übersetzt. Dabei werden Daten generiert, verarbeitet, gespeichert und übermittelt. Das eigentliche Potenzial der Digitalisierung liegt in den Möglichkeiten, die sich dadurch dank der Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten eröffnen. Vier Anwendungsfelder stehen im Zentrum: Vernetzen, Automatisieren, Virtualisieren und Realisieren.

  • Vernetzen: Viele Bereiche des Wirtschaftens können dank der digitalen Infrastruktur durchgängig und in Echtzeit miteinander vernetzt werden. Nicht nur zwischen den Maschinen, auch zwischen den Menschen und zwischen Menschen und Maschinen können Netzwerke gebildet werden. Die daraus resultierenden Netzwerke legen die Basis für soziale Netzwerke, das Internet der Dinge oder Mensch-Maschinen-Interaktionen beim Bedienen von digitalen Endgeräten.
  • Automatisieren: Roboter und selbstfahrende Fahrzeuge sind die prominentesten Beispiele für die Automatisierung verschiedener Prozesse. Durch die intelligente Kombination klassischer Technologien mit künstlicher Intelligenz entstehen autonom arbeitende Maschinen und Systeme. Diese sind dank höherer Produktivität, Zuverlässigkeit und Qualität bei gleichzeitig tieferen Kosten effizienzsteigernd.
  • Virtualisieren: Erweiterte oder künstliche Realitäten sind Teil der Virtualisierung. Sie eröffnen neue Möglichkeiten für Kommunikation, Navigation oder Erlebnisse. «Augmented Reality» kann sogar helfen, neue Tätigkeiten zu erlernen oder die Realität als Raum für Spiele zu nutzen. Mit Virtual Reality werden neue Welten erschaffen, die unter anderem für die Unterhaltungsbranche, aber auch für Produktpräsentationen oder Simulationen genutzt werden können.
  • Realisieren: Es können neue Angebote realisiert werden. Die Verfügbarkeit von Computern mit leistungsfähiger Software oder Produktionstechnologien wie 3D-Drucker ermöglichen die Entwicklung von Dienstleistungen oder die Herstellung von neuartigen Produkten in kleinen Dimensionen, losgelöst von der Infrastruktur grosser Anbieter.

Repetitiven Tätigkeiten droht die Automatisierung

Erhellend ist ein kurzer Blick zurück auf die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt in den letzten Jahren. Welche Ausbildungsniveaus wurden stärker und welche weniger stark nachgefragt? Die OECD hat eine interessante Analyse durchgeführt, welche die Veränderung der Beschäftigungsanteile zwischen 2002 und 2014 in den USA, der EU und in Japan aufzeigt. Erstaunlicherweise ist der Anteil an Stellen, die von tief qualifizierten Personen besetzt werden, entgegen den Erwartungen in den letzten Jahren tendenziell eher gestiegen. Demgegenüber wurden viele Stellen mit Routinetätigkeiten abgebaut, die ein mittleres Ausbildungsniveau voraussetzen. Zu den Gewinnern zählen nicht nur hoch qualifizierte Personen, sondern auch solche mit einer mittleren Ausbildung, die aber keine repetitiven Tätigkeiten ausführen.

Grafik 1

Ähnliche empirische Resultate zeigt die Weltbank mit einer etwas anderen Methodik. Auch hier zeigt sich, dass in den meisten Ländern zwischen 1995 und 2012 die Zahl der Jobs, die eine mittlere Qualifikation voraussetzen, aber meist repetitive Tätigkeiten beinhalten, stark abgenommen hat. Deutlich gestiegen ist hingegen die Zahl der hoch qualifizierten Jobs (Arbeiten mit einem hohen Anteil an kognitiven und zwischenmenschlichen Nicht-Routinetätigkeiten), gerade auch in der Schweiz. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist in der Schweiz die Zahl der niedrig qualifizierten Jobs kaum gestiegen.

Grafik 2

Arntz/Zierahn (2016) versuchen in einer Studie in 21 OECD-Ländern (ohne die Schweiz) in Erfahrung zu bringen, welche Jobs in Zukunft gefährdet sein könnten.Wenig überraschend ist das Ausbildungsniveau eine zentrale Komponente für die künftige Arbeitsmarktfähigkeit. So werden gemäss dieser Untersuchung vor allem einfache Tätigkeiten wegfallen, für die keine Ausbildung erforderlich ist und ein Abschluss der obligatorischen Schule ausreicht (Grafik 3). Schon deutlich weniger wahrscheinlich ist hingegen, dass Jobs von Menschen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II (Lehre, Gymnasium) verloren gehen. Wer zudem über ein weitergehendes Bildungsniveau (Tertiär A und B) verfügt, scheint gemäss dieser Untersuchung auch künftig auf dem Arbeitsmarkt gefragt zu sein. Daraus nun aber zu folgern, dass es einfach mehr Abschlüsse auf der Tertiärstufe braucht, greift zu kurz; vor allem die hinter einem Titel stehenden Kompetenzen sind wichtig und nicht der Titel an sich.

Grafik 3

Gemäss der Umfrage des World Economic Forums (2016) werden sich die Anforderungen bezüglich Kompetenzkategorien zumindest bis 2020 nicht wesentlich verändern (siehe Tabelle 1). Bei vielen Tätigkeiten scheint auch in Zukunft die Fähigkeit entscheidend zu sein, komplexe Probleme lösen zu können. Bereits auf Platz zwei folgen die Sozialkompetenzen. Das kritische und prozessuale Denken («process skills») und die Kompetenz zur Beurteilung und Entscheidung («system skills») schwingen ebenfalls obenaus. Während technische Kompetenzen etwas an Bedeutung verlieren, werden kognitive Kompetenzen wie diejenige des mathematischen Denkens oder der Kreativität wichtiger. Die Bedeutung physischer Fähigkeiten nimmt erwartungsgemäss weiter ab.

Tabelle 1

Während die Bedeutung der Kompetenzkategorien gemäss der WEF-Umfrage mehr oder weniger stabil bleiben soll, erwarten die Führungskräfte substanzielle Veränderungen bei einzelnen Jobs oder Beschäftigungen. So werden zum Beispiel im Gesundheitswesen technische bzw. Informatikfachkompetenzen wichtiger. In der IKT-Branche (Informations- und Kommunikationstechnik) werden vermehrt soziale Kompetenzen notwendig sein. Die Digitalisierung hat also weitreichende Auswirkungen auf die Kompetenzanforderungen der künftigen Arbeitskräfte: Auch wenn nur in wenigen Branchen bzw. Berufen das IT-Fachwissen als wichtigste Kernkompetenz gelten wird, muss davon ausgegangen werden, dass IT-Kompetenzen in den meisten Branchen bzw. Berufen als Grundkompetenzen in Zukunft vorausgesetzt werden.

Hohe Bedeutung der «Soft Skills»

Aus der in Tabelle 1 dargestellten WEF-Umfrage geht interessanterweise hervor, dass die Sozialkompetenzen sowohl heute wie auch in Zukunft sehr wichtig sind. Dies deckt sich etwa mit der Untersuchung von Heckman/Kautz (2012), die die hohe Bedeutung sogenannter «Soft Skills» für den beruflichen Erfolg wissenschaftlich aufzeigen konnte. Es ist davon auszugehen, dass «Soft Skills» (wie Sozialkompetenzen) weiterhin eine entscheidende Rolle spielen werden und oft wichtiger sind als «Hard Skills» (kognitive und technische Fähigkeiten). Es gibt zahlreiche berufliche Tätigkeiten, die mit schwach ausgeprägten «Soft Skills» kaum befriedigend zu erledigen sind. Zudem werden Tätigkeiten, die ein hohes Mass an «Soft Skills» verlangen – Verhandlungen, Führungsaufgaben, Pflegeaufgaben oder das Unterrichten – kaum zu automatisieren sein. Bei den «Soft Skills» ist der Mensch gegenüber den digitalen Maschinen im Vorteil. Diese veralten zudem im Vergleich zu Fachwissen kaum oder deutlich weniger rasch.

Eine Reduktion von repetitiven Tätigkeiten und der erhöhte wirtschaftliche Wandel bedeuten, dass die Anforderungen an die Arbeitskräfte weiter steigen. Zudem hat sich bereits in den vergangenen Jahrzehnten die Tendenz abgezeichnet, dass immer mehr Menschen im Laufe ihres Arbeitslebens mehrere Berufe ausüben. Sie werden bei verschiedenen Arbeitgebern tätig sein oder ihre Arbeit als Selbstständige verrichten. Dies erfordert von den Arbeitskräften ein hohes Mass an Anpassungsfähigkeit. Entsprechend steigt auch die Notwendigkeit, sich im Laufe des Lebens kontinuierlich neues Wissen und neue Fähigkeiten anzueignen.

Aus den voranstehenden Überlegungen lässt sich schliessen, dass für Arbeitskräfte künftig folgende Fähigkeiten entscheidend sind für den beruflichen Erfolg: 

  1. Eine Arbeitskraft muss verschiedene Kompetenzen haben (Fach-, Handlungs-, Selbst- und soziale Kompetenzen). Eine Konzentration auf gute Fachkompetenzen wird nicht ausreichen.
  2. MINT-Kompetenzen – insbesondere Mathematik, Logik und Abstraktionsfähigkeit – sind für eine steigende Anzahl Jobs zwingend und deren Bedeutung nimmt in sehr vielen Berufen und Tätigkeiten laufend zu.
  3. Die Bedeutung der «Soft Skills» wird zunehmen.
  4. Bereitschaft zur beruflichen Mobilität und Flexibilität.
  5. Durchhaltewillen und Bereitschaft zum lebenslangen Lernen.