# 1 / 2022
25.01.2022

Die Schweiz und das Vereinigte Königreich: gemeinsam fit für die Zukunft

Das Vereinigte Königreich in Europa – ein Jahr nach dem Brexit

Am 31. Dezember 2020 hat das Vereinigte Königreich den Brexit vollzogen und ist aus der EU ausgetreten. Es ist damit nach fast 50 Jahren EU-Mitgliedschaft wieder ein europäisches Drittland. Die EU ist durch diesen Austritt um rund 67 Millionen Einwohner und einen Sechstel ihrer Wirtschaftsleistung geschrumpft. Sie verliert zudem ihren drittgrössten Beitragszahler.

EU-Austritt dämpft wirtschaftliche Entwicklung des Vereinigten Königreichs

Vergleicht man die Entwicklung des Bruttoinlandprodukts (BIP) des Vereinigten Königreichs mit anderen europäischen Staaten im Kontext der Corona-Pandemie, wird deutlich: Der Brexit dämpft die wirtschaftliche Erholung des Vereinigten Königreichs kurz- und mittelfristig. Experten des parteiunabhängigen «Office for Budget Responsibility» der britischen Verwaltung schätzen gar, dass die wirtschaftliche Entwicklung durch den Brexit doppelt so stark beeinträchtigt werde (-4% BIP) als durch die Corona-Pandemie (-2% BIP).

Konkret verzeichnete das Vereinigte Königreich 2020 den stärksten BIP-Einbruch aller G-7-Staaten, zu denen auch Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada und die USA zählen (-9.8% im Vergleich zum Vorjahr). Deutschland mit -4.6 Prozent und die Eurozone mit -6.3 Prozent verzeichnen deutlich kleinere Wohlfahrtsverluste (siehe Grafik). Bereits 2019 hat zudem gemäss Analysen der Bank of England eine rückläufige Investitionstätigkeit des britischen Privatsektors infolge der Brexit-Unsicherheiten eingesetzt. 2022 soll sich diese negative Tendenz jedoch deutlich reduzieren. Es wird somit interessant sein, ob die britische Volkswirtschaft ihre starke Aufholbewegung in der zweiten Hälfte 2021 wird fortsetzen können.

Der Brexit hat den wirtschaftlichen Einbruch des Vereinigten Königreichs in der Corona-Krise zusätzlich verstärkt. Die mittel- und langfristige konjunkturelle Entwicklung hängt jedoch von mehreren Faktoren ab.

Insbesondere die verarbeitende Industrie des Vereinigten Königreichs hatte in den ersten Monaten nach dem Brexit mit operativen Problemen zu kämpfen. Einige Beispiele: Gemäss des britischen Automobilherstellerverbands SMMT benötigten über 60 Prozent ihrer Mitglieder deutlich mehr Zeit und Ressourcen für den Handel mit dem europäischen Festland als vor dem Brexit. Konkret sind weniger die Exporte, sondern primär die Importe aus der EU im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum Rest der Welt stark zurückgegangen (-27% vs. +39.7%). Der ursprünglich prognostizierte Zusammenbruch der britischen Automobilindustrie ist bisher jedoch ausgeblieben. Die Nahrungsmittelbranche meldete für die ersten drei Quartale 2021 einen Rückgang um 13.9 Prozent bei den Exporten in die EU im Vergleich zum Vorjahr. Aber auch der Dienstleistungssektor ist betroffen: Eine Studie zur britischen Finanzindustrie berichtet, dass der Brexit bei 440 Firmen zu Verlagerungen in die EU geführt hat. Damit einher ging der Verlust von 7400 Arbeitsplätzen und rund zehn Prozent der verwalteten Vermögen.

Wie die künftige konjunkturelle Entwicklung im Vereinigten Königreich – und für einzelne Industrien – verläuft, hängt von mehreren Faktoren ab. Zum einen wird der Verlauf der Corona-Pandemie und die Entwicklung bei den globalen Lieferengpässen relevant sein. Gleichzeitig wird aber auch entscheidend sein, ob es dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit gelingt, die Beziehungen zu wichtigen Wirtschaftspartnern rasch und substanziell zu vertiefen (z.B. USA) und die Handelsdynamik mit der EU zu stabilisieren. Ferner sind auch die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen im Inland von Bedeutung, um die Wettbewerbsfähigkeit britischer Unternehmen im internationalen Umfeld zu stärken. So wird von der aktuellen britischen Regierung etwa die Herstellung von Elektrofahrzeugen stark gefördert.

Wirtschafts- und Kooperationsabkommen regelt künftige Beziehungen EU-UK

Mit der Unterzeichnung des umfassenden Handels- und Kooperationsabkommens EU-UK (HKA EU-UK) am 30. Dezember 2020 (in Kraft seit 1. Januar 2021) verfügen beide Partner über eine vertragliche Basis für die künftigen Beziehungen. Beim gegenseitigen Marktzugang entspricht das Abkommen einem umfassenden Freihandelsabkommen – mit gewichtigen Lücken (u.a. technische Standards oder Finanzdienstleistungen). Darüber hinaus regelt das HKA EU-UK auch die Koordination der sozialen Sicherheit, die Strafverfolgung, die justizielle sowie die fachliche Zusammenarbeit und Teilnahme an Unionsprogrammen.

Trotz vertraglicher Einigung hat sich der Ton zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU jüngst wieder verschärft. Aktuell besonders umstritten sind die Vereinbarungen zu den Fischereirechten im britischen Kanal und das Nordirland-Protokoll.

Brexit trübt britische Handelsdynamik

Handels- und Investitionsstatistiken des Vereinigten Königreichs lassen erst vereinzelt Rückschlüsse auf eine negative Dynamik gegenüber den derzeitigen EU-Mitgliedstaaten (EU-27) im Vergleich zu anderen wichtigen Handelspartnern zu (Quellen: ONS für Güter und Investitionen, WTO für Dienstleistungen).

Betrachtet man die Entwicklung des britischen Güterhandels vor dem Brexit-Entscheid (23. Juni 2016) bis heute, sind mehrere Aspekte augenfällig. Einerseits hat sich das Handelsvolumen insgesamt erhöht, andererseits zeigen sich aber Unterschiede in der Entwicklung mit den EU-27-Staaten und anderen Partnern. Klar erkennbar sind zudem die Effekte der Unsicherheiten rund um die Einführung umfangreicher Grenzkontrollen im Handel EU-UK: ein starker Anstieg des Handelsvolumens gegen Ende 2020, gefolgt von einem massiven Einbruch im ersten Quartal 2021 und einer Erholung zur Jahresmitte 2021. Diverse Firmen haben in diesem Zeitraum ihre Lager vor dem Brexit aufgestockt, um Turbulenzen infolge neuer Grenzkontrollen zu Jahresbeginn 2021 auszuweichen. Gemäss Berechnungen des Center for European Reform lag das Güterhandelsvolumen des Vereinigten Königreich im Jahr 2021 um 11 bis 16 Prozent tiefer, als wenn das Land im EU-Binnenmarkt verblieben wäre.

Mit dem EU-Austritt sind britische Firmen im Handel mit der EU mit einer Vielzahl neuer Hürden konfrontiert. Dies schwächt die Exporte, aber akzentuiert auch Engpässe auf der britischen Insel.

Bei den Dienstleistungen ist ebenfalls eine unterschiedliche Entwicklung bei wichtigen Handelspartnern zu erkennen: Während der Handel mit den USA zwischen 2015 und 2020 um 10.1 Prozent gewachsen ist, schrumpfte jener mit den EU-27-Staaten um 1.5 Prozent. Deutlich in die EU verschoben hat sich etwa der grenzüberschreitende Handel mit Aktien von EU-Unternehmen. Der Rückgang zeigte sich auch beim Transport und Tourismus – ein Indiz dafür, dass ebenfalls die Corona-Pandemie einen grossen Einfluss hatte.

Briten spüren den Brexit direkt

Im Alltag hat der Brexit auf der britischen Insel spürbare Auswirkungen gezeigt. Zu erwähnen sind Lieferverzögerungen als Folge der Einführung umfangreicher Zollkontrollen und regulatorischer Checks zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Diese Transportprobleme waren und sind etwa für den Export verderblicher Lebensmittel aus dem Vereinigten Königreich (z.B. Meeresfrüchte) ein grosses Problem.

In Verbindung zum Brexit hat sich aber auch der Personalmangel infolge Wegfalls des erleichterten Arbeitsaufenthalts für EU-Bürgerinnen und -Bürger auf der Insel akzentuiert. Besonders betroffen sind Jobs ohne höhere Ausbildung in der Transportindustrie, der Gastronomie, dem verarbeitenden Gewerbe oder auch der Lebensmittelverarbeitung. Die Folgen sind Lücken in Supermarktregalen (z.B. Fleisch, Milch), steigende Energie- und Güterpreise oder phasenweise Treibstoffmangel an Tankstellen.

Es ist wichtig festzuhalten, dass nicht alle genannten Probleme allein durch den Brexit entstanden sind. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die globale Knappheit verschiedener Rohmaterialien spielen ebenfalls eine grosse Rolle. Und der Fachkräftemangel bestand im Vereinigten Königreich bereits vor dem Brexit. Der EU-Austritt hat aber viele Herausforderungen verstärkt.

Ein Freihandelsabkommen ist keine Binnenmarktteilnahme

Der rechtliche Rahmen der Wirtschaftsbeziehungen EU-UK entspricht im Kern jenem eines modernen Freihandelsabkommens (FHA). Das HKA EU-UK ist in einzelnen Bereichen jedoch umfassender als das FHA, welches beispielsweise die EU mit Kanada abgeschlossen hat (CETA). Enthalten sind auch ausführliche Bestimmungen betreffend die Gewährleistung gleicher und fairer Wettbewerbsbedingungen für alle Teilnehmer eines Marktes (level-playing field). So enthält das HKA EU-UK umfangreiche Wettbewerbs- und Beihilferegeln. Gleichzeitig wurden auch Minimalregeln in den Bereichen Umwelt, Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht festgelegt. Das HKA EU-UK enthält ferner ein Verbot, die aktuellen Schutznormen zu schwächen oder zu verringern. Für die EU sind diese Regeln auch für die künftige Ausgestaltung ihrer Beziehungen zu anderen europäischen Drittstaaten zwingend – anders als etwa mit Kanada. Dies mit Verweis auf die geografische Nähe und die Intensität der Wirtschaftsbeziehungen.

Gleichwohl geht die Desintegration des Vereinigten Königreichs aus dem EU-Binnenmarkt mit dem Verlust zahlreicher Vorteile in den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen einher. Zu nennen sind etwa folgende Bereiche:

  • Neue Grenzkontrollen im Güterhandel EU-UK und Vorausanmeldungen erforderlich
  • Ausschluss aus dem Netz von EU-Freihandelsabkommen inkl. Möglichkeiten der Ursprungskumulation
  • Harmonisierung bei der Zertifizierung und Marktzulassung von Industrieprodukten
  • Verlust der Passportingrechte für Finanzdienstleistungen
  • Zusätzliche Auflagen zur personenbezogenen Dienstleistungserbringung
  • Keine gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen
  • Erschwerter Zugang zu Fachkräften

Ein Sonderfall ist Nordirland mit der einzigen Landesgrenze zur EU. Beide Seiten haben vereinbart, dort mit Blick auf den Nordirlandkonflikt harte innerirische Grenzkontrollen zu vermeiden. Auf diesem Gebiet bleiben deshalb bestimmte EU-Regulierungen weiterhin anwendbar und auch der Europäische Gerichtshof spielt bei Streitigkeiten in diesen Bereichen eine Rolle.