# 9 / 2021
15.07.2021

Die Pandemie als digitale Nagelprobe: Lehren und Handlungsbedarf

Allgemeine Fallstricke und Digitalisierungshindernisse

Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Problemlösung

Die gesellschaftlichen Ansprüche an digitale Dienstleistungen sind wahrscheinlich nirgends so hoch wie bei der öffentlichen Hand. Die Bevölkerung erwartet von der Verwaltung ein besonderes Mass an Transparenz, Datenschutz, Datensparsamkeit, Sicherheit oder Zugänglichkeit. Wie bei privaten Unternehmen auch, wird Digitalisierung in der Verwaltung teilweise zu wenig umfassend betrachtet. Der Einsatz neuer Technologien, die Vernetzung, Automatisierung und generell die Arbeit mit Daten werden als Selbstzweck interpretiert, der vor allem den etablierten Strukturen zu dienen hat. Eine neue Software, eine Machine-Learning-Anwendung oder ein Kundenportal werden eingeführt, ohne dass sich die dahinterliegenden Prozesse verändern. Teilweise dienen diese Mittel sogar dazu, die betreffenden Prozesse zu zementieren. Diese «Scheindigitalisierung» ist zwar verlockend, bringt aber keine Mehrwerte, weil sie auf die Anwendung von Technologie und nicht auf daraus entstehende Vorteile bedacht ist. Sie stellt den Weg des geringsten Widerstands dar, weil sie selten institutionelle und organisatorische Anpassungen verlangt. Dennoch ist sie mit erheblichen Risiken behaftet, denn ohne eine klare Vision für einen kundenseitigen Mehrwert haben solche Digitalisierungsprojekte die Tendenz sich zu verzetteln und zu scheitern.

In den genannten Bereichen kommt zu oft die Raison der bestehenden «Legacy»-Systeme zum Tragen. Eine solche bewahrende Denkweise ist insbesondere auch im Gesundheitssystem noch weit verbreitet. Diese vorherrschende Meinung berücksichtigt die digitalen Möglichkeiten nicht oder nicht genügend und dies bremst den dringend nötigen digitalen Wandel. Effizienzgewinne sollten erzielt werden, die den Datenschutz nicht vernachlässigen. Ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis ist dabei unabdingbar. Auch im Bildungsbereich kann eine starke Präferenz für den Status quo festgestellt werden. Die Digitalisierung wird je nach Institution nur sehr widerstrebend berücksichtigt. Dabei bieten sich digitale Medien an, einen individualisierten Unterricht zu stärken, ohne dass das Zwischenmenschliche zu kurz kommt.

Defizite in der Führungsstruktur

Eine «Smart Government» zu schaffen ist in einem komplexen, föderal aufgebauten Staat wie der Schweiz keine einfache Aufgabe. Zentral wäre insbesondere die Durchsetzung sogenannter Querschnittsprinzipien und Infrastrukturen, die über alle Staatsebenen und Ämter für einheitliche Standards sorgen. Dies gilt beispielsweise für das «once only-Prinzip», also dass Daten im Idealfall einmal bei einer Behörde angegeben werden müssen und dann innerhalb der Verwaltung geteilt werden. Will man solche Prinzipien konsequent umsetzen, braucht es Entscheide, welche die üblichen Zuständigkeiten übersteuern und so Kohärenz erzeugen. Dies erfordert wiederum eine klare Führungsstruktur. Der Bund hat eigentlich in der E-Government-Strategie 2020 bis 2023 festgelegt, dass das Leitbild «Digital First» heissen soll und somit digitale Interaktionen gegenüber den analogen Varianten bei Behördenleistungen priorisiert werden sollen. Die Operationalisierung lässt allerdings bisher zu wünschen übrig. Dies hat unter anderem mit der herausfordernden Organisation der Digitalisierungsbestrebungen zu tun: Die OECD hat im Digital Economy Outlook 2020 verschiedene Governance-Modelle für Digital-Strategien untersucht und dabei zwei grundlegende Ansätze identifiziert:

  • Digitalisierung als Führungsaufgabe auf höchster Regierungsebene.
  • Digitalisierung als zusätzliche Querschnittsaufgabe für ein bestehendes oder neues Ministerium.

Gemäss der Studie hat sich die Zahl der OECD-Staaten, welche den ersten Ansatz verfolgen, in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Die Schweiz setzte bisher auf eine Mischform – strategische Belange im Bereich Digitalisierung entscheidet der Bundesrat, die operative Betreuung erfolgte durch das Bundesamt für Kommunikation, die Bundeskanzlei, das Informatiksteuerungsorgan des Bundes oder andere Institutionen. Hinzu kamen die Schnittstellen zu Kantonen und Gemeinden. Diese Konstellation erwies sich immer wieder als komplex und herausfordernd.

Auch im Bildungssystem ist eine intelligente Führung wichtig, welche die Digitalisierung angemessen in den Schulalltag integriert. Eine präsente und unterstützende Führung ist in normalen Zeiten und noch mehr während Ausnahmesituationen nötig, damit der Bildungsbetrieb rund läuft. Davon profitieren alle Beteiligten, die Lehrpersonen finden die nötige Unterstützung und können durch die geringere Belastung den Schülerinnen und Schülern besseren Unterricht bieten. Auch das Umfeld der Schülerinnen und Schüler profitiert davon und findet auf allen Stufen kompetente Ansprechpartner. Eine starke Schulleitung trägt dazu bei, dass auf unerwartete Situationen gut reagiert wird und sie sorgt auch dafür, dass der Normalbetrieb wie gewünscht funktioniert.

Im Gesundheitsbereich muss der notwendige digitale Wandel ebenfalls durch eine konsequentere Führung beschleunigt werden. Hier wäre eine klare Linie respektive eine Strukturauffrischung durch das BAG wichtig, um die Akteure, die sich vor der Umstellung scheuen, zum Wandel zu bewegen. Inzwischen seien die Faxgeräte im BAG nicht mehr in Benutzung, insofern scheint ein langsamer Wandel vonstatten zu gehen. Dieser könnte aber noch beschleunigt werden.

Politik und Verwaltung haben die Covid-App zu früh fallen lassen

Die SwissCovid-App funktioniert und gehört aus technischer Sicht im internationalen Vergleich zu den besseren Contact-Tracing-Lösungen. Der Code und die Funktionsprinzipien wurden frühzeitig transparent gemacht. Die Architektur wurde so gewählt, dass ein optimaler Datenschutz gewährleistet ist und keine neuen rechtlichen Grundlagen benötigt gewesen wären. Dennoch sah sich das Parlament veranlasst, eine zusätzliche, redundante Grundlage zu fordern. Dies führte zur verzögerten Umsetzung der App und sorgte von Beginn weg für Skepsis bei den Nutzenden. Dennoch wurde die App zu Beginn rege genutzt, sodass die Schwelle von einer Million Downloads bald überschritten war. Seit einiger Zeit stagniert die Anzahl der täglichen Nutzenden der App bei etwa 1,7 Millionen Personen. Politik und Verwaltung haben es jedoch anschliessend verpasst, die Nutzung weiter zu promoten. Auch die Einbindung in die relevanten Prozesse des Gesundheitssystems klappte nicht wie erhofft, sodass die App am Ende nicht die gewünschte Wirksamkeit entfalten konnte. Ob die Eincheckfunktion mit der neuen App-Version 2.0 deren Popularität erhöht, wird sich zeigen. Der Datenschutz verhindert, dass die Kontaktdaten übermittelt werden und die Kantone das Contact Tracing wahrnehmen können. Leider muss sich daher der Benutzer trotz dieser Eincheckfunktion etwa im Restaurant zusätzlich registrieren. Auch sonst bleiben die Anreize zur Nutzung der App schwach.

Ungenutztes Potenzial in der Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft

In der Privatwirtschaft ist viel Know-how vorhanden, das bei der Pandemiebekämpfung hilfreich gewesen wäre. Unternehmen kennen ihre Märkte und verfügen über Expertinnen und Experten, die besonders in einer Ausnahmesituation wie der Pandemie wertvoll sein können. Die Covid-Krise hat leider gezeigt, dass der Staat zu wenig auf dieses Potenzial zurückgreift und kooperative Lösungen mit hochspezialisierten Unternehmen sucht. Dabei könnten beispielsweise Änderungen von Verwaltungsprozessen, Softwareerneuerungen oder auch gänzlich neue Ansätze unter Einbezug von Unternehmen bedeutend einfacher erreicht werden. Die Erfahrung und das Wissen von privaten Dienstleisterinnen bieten eine wertvolle Ressource, um zum Beispiel Entwicklungskosten für ein Tool, das es ähnlich bereits gibt, einsparen zu können oder dass sich negative Erfahrungen der Unternehmen auf Staatsseite nicht wiederholen.

Im Rahmen der Pandemiebekämpfung hätte es viele Gelegenheiten für schnellere und bessere Ergebnisse gegeben, wenn die Kooperation zwischen Staat und Privatwirtschaft besser funktioniert hätte, zum Beispiel bei der Covid-App oder bei der Impfstoff- und Schutzmaterialbeschaffung. Insbesondere bei der SwissCovid-App hätten sicher bessere Ergebnisse erzielt werden können, wenn die zuständigen Bundesstellen und Entscheidungsträger diese ohne Einschränkungen und gleich zu Beginn unterstützt hätten. Zudem hätte hier eine gemeinsame Kampagne mit der Privatwirtschaft sicher zu mehr Erfolg geführt. Eine Integration der App-Nutzung in die Schutzkonzepte der einzelnen Branchen und Unternehmen hätte gefördert werden sollen. So wäre der Anreiz, die App zu nutzen, deutlich grösser gewesen. Die Kantone haben hier teilweise bessere Resultate erzielt als der Bund, beispielsweise griffen sie bei der Organisation der Impfkampagne viel stärker auf privatwirtschaftliches Know-how zurück.

Insgesamt wäre es somit wünschenswert, wenn in der Pandemiebekämpfung und in anderen Bereichen zukünftig ein konstruktiver Dialog zwischen Staat und Privatwirtschaft geführt und eine ideale Aufgabenteilung gesucht wird. Das gemeinsame Ziel einer effizienten Krisenbewältigung teilen beide Seiten.