# 9 / 2021
15.07.2021

Die Pandemie als digitale Nagelprobe: Lehren und Handlungsbedarf

Lösungsansätze

Regulierung muss kohärent in allen Bereichen dem digitalen Anspruch gerecht werden

Bundesbern mit seinen zahlreichen Behörden kann – ebenso wie die Kantone – als riesiges Unternehmen mit den unterschiedlichsten Bereichen und Tochterunternehmen angesehen werden. Der grosse Unterschied zu privaten Unternehmen ist jedoch, dass Behörden existieren und auch bestehen bleiben, egal ob sie wirtschaftlich lukrativ und innovativ sind oder an lang bestehenden Prozessen festhalten. Daher werden Digitalisierungsansätze wie zum Beispiel in der E-Government-Strategie 2020 bis 2023, welche das Prinzip «Digital First» als Priorität feststellt, zwar aufgenommen, aber selten konsequent oder zeitnah umgesetzt. Diese Einstellung von Digitalisierung als Option und «nice to have» muss sich dringend zu einer konsequenten Anwendung der Digitalisierung als Regelfall ändern.

Der Bundesrat hat zuletzt Schritte in die richtige Richtung getan, indem er mit dem neuen «Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben» eine durchgängige Grundlage für gewisse Prinzipien wie «Open Government Data» geschaffen hat. Dennoch manifestiert sich auch bei dieser Vorlage der starke Fokus auf die digitale Bereitstellung kundenseitiger Dienstleistungen. Die Prozessdigitalisierung und die Anschlussfähigkeit an private Soft- und Hardware bleiben dagegen weitgehend auf der Strecke. Im Unternehmensentlastungsgesetz soll künftig die Möglichkeit eingeräumt werden, dass die zentrale elektronische Plattform «easygov.swiss» auch für Einzelpersonen und weitere Akteure geöffnet werden kann. Das ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Die Plattform allein reicht jedoch nicht aus, um die Prozesse zufriedenstellend zu digitalisieren. Wenn es als Anstoss dient, ist aber bereits einiges erreicht.

Es ist unerlässlich, dass bei der Überarbeitung oder Neuentwicklung von Regulierung sichergestellt wird, dass überall die gleichen Prinzipien angewandt werden. Es kann nicht sein, dass beispielsweise in einem Bereich Ausnahmeregelungen festgelegt werden, die eine konsequente Digitalisierung verhindern. Eine prinzipienbasierte Regulierung könnte sich am Lebenszyklus von Daten orientieren und für jeden Teilbereich dieses Zyklus spezifische Grundsätze vorsehen. Diese Grundsätze sollten auch über föderale Strukturen hinweg gelten. Der private Sektor hat sich für die Digitalisierung und die Datennutzung bereits vor längerer Zeit eine solche Selbstregulierung auferlegt. Das «Grundbekenntnis der Schweizer Wirtschaft zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Daten» liesse sich mit gewissen Anpassungen auch auf den Kontext der öffentlichen Verwaltung übertragen. Prinzipien für die öffentliche Hand könnten umfassen:

  • Technologieneutrale Anforderungen
  • Digital first/once only bei der Datenerfassung und -nutzung
  • Neue Softwarelösungen kooperativ und als open source software
  • In hoheitlichem Auftrag erhobene Daten als Open Government Data
  • Standardisierte Lösungen

Wird durchgehend nach solchen Grundlagen reguliert, erleichtert dies die Einhaltung von gesellschaftlich geforderten Konventionen wie Datenschutz und -sparsamkeit oder Transparenz. Daraus entsteht Vertrauen in die digitalen Lösungen des Staates.

Interoperabilität, Standardisierung und Offenheit

Bei der Prozessdigitalisierung geht es vor allem um mehr Interoperabilität und Standardisierung. Funktional verknüpfte Systeme aller Staatsebenen und Ämter sollten immer nahtlos ineinandergreifen. Das ist weniger eine technische, sondern vor allem eine institutionelle, organisatorische und politische Herausforderung. Bund und Kantone haben dies prinzipiell erkannt. Mit der Schaffung der Organisation «Digitale Verwaltung Schweiz» wurden erste Voraussetzungen für die durchgehende Prozessdigitalisierung geschaffen. Die neue Stelle bei der Bundeskanzlei soll die strategische Steuerung und Koordination von Digitalisierungsaktivitäten von Bund, Kantonen und Gemeinden durch eine Zusammenführung bestehender Strukturen und eine Bündelung der entsprechenden Kräfte wirksamer gestalten. Das ist ein zögerlicher Schritt in die richtige Richtung: weniger System- und IT-Föderalismus, ohne dass der politische Föderalismus tangiert wird.

Dieser Transformationsprozess ist als Führungsaufgabe zu verstehen. Es braucht den vollständigen Rückhalt der Landes-, Kantons- und Gemeinderegierungen, die entsprechende Weisungsbefugnis und speziell zugewiesene Ressourcen, damit ein «streamlining» von Verwaltungsprozessen möglich ist.

Massgeschneiderter Behördenaustausch für unterschiedliche Anspruchsgruppen

Gegen aussen besteht noch grösserer Handlungsbedarf. Damit der Behördenaustausch der Unternehmen wirklich digitalisiert werden kann, wären offene, maschinenlesbare Schnittstellen eine entscheidende Voraussetzung. Bereits heute binden Softwareunternehmen dank solcher Schnittstellen Dienstleister wie Banken und Versicherungen in ERP-Systeme ein. Diese Systeme erleichtern insbesondere KMU mit geringen administrativen Kapazitäten die Arbeit enorm. Sie ermöglichen die vereinfachte oder gar automatisierte Abwicklung von administrativen Arbeiten, beispielsweise Lohn- oder Mehrwertsteuerabrechnungen. Die Softwareunternehmen gewährleisten als «Broker» die Datensicherheit und Datenqualität für alle involvierten Parteien. Die Systeme sind dank Machine Learning lernfähig und passen sich den Bedürfnissen der Nutzenden an.

Behördendienstleistungen als Teil eines Ökosystems

Im Austausch mit der Wirtschaft könnte der Staat also künftig stärker in den Hintergrund treten und das «front-end» vermehrt solchen spezialisierten Dienstleistern überlassen und sich darauf fokussieren, die Schnittstellen klar zu definieren. Dies wäre ein programmatisch anderer Ansatz als der Betrieb von eigenen Plattformen und Schaltern – jedoch mit offensichtlichen Vorteilen: bessere Datenqualität, tiefere Kosten und ein unbürokratischer Austausch zwischen Unternehmen und Verwaltung. In der Pandemie hätten Bund, Kantone und Gemeinden damit beispielsweise Sonderregeln, Schutzmassnahmen und wirtschaftliche Unterstützung über Schnittstellen ausspielen können, um noch schneller und wirksamer bei den bedürftigen Unternehmen zu sein.

Indem sich der Staat zurücknimmt und stärker mit Dienstleistern interagiert, verliert er keineswegs an Einfluss, sondern kann sich in einem neuen Administrationsökosystem (z.B. für KMU) als verlässlicher Partner etablieren.

Nach der Ausnahmesituation sollten pragmatische Lösungen weiterverfolgt werden

Auch wenn sich die Ausnahmesituation im Sommer 2021 wieder etwas beruhigt und der Weg zurück zur Normalität in greifbarer Nähe scheint, sollten die digitalen Ansätze, welche sich während der Restriktionen bewährten, weiterverfolgt und vorangetrieben werden. Es hat sich ausserdem gezeigt, dass solche Umstellungen auch in einem weitaus kleineren Zeitrahmen umgesetzt werden können, als bisher immer angenommen wurde. Die Vorteile von digitalen Lösungen in der Zeit, in der der persönliche Kontakt reduziert war, können auch in Zukunft zu einer Effizienzsteigerung und Verbesserung von Prozessen führen.

Als Beispiel könnte das Covid-Zertifikat auch für andere Impfungen oder sonstige Zulassungsbeschränkungen in Zukunft gebraucht werden. Ebenfalls sollten die guten Erfahrungen, welche das Justizsystem in dieser Zeit mit digitalen Prozessen gemacht hat, einen Anreiz dazu bieten, die Digitalisierung in diesem Bereich voranzutreiben. Beispielsweise gibt es keinen Grund, Erleichterungen für elektronische Unterschriften nicht über die Pandemie hinaus beizubehalten.

Covid-Zertifikat: Gelungenes Digitalisierungsprojekt der öffentlichen Hand

Das Covid-Zertifikat ist in der Pandemie bisher eindeutig der Silberstreifen am digitalen Horizont. Es wurde in Rekordzeit in Zusammenarbeit verschiedener Behörden und mit Unterstützung privater Softwareentwickler als Open-Source-Software erstellt. Diese Vorgehensweise hat sich als extrem erfolgreich herausgestellt und die sonst jeweils auftretenden Hindernisse konnten kurzfristig beseitigt werden. Bis heute verfügen fast 3,5 Millionen Geimpfte und rund 90'000 Genesene über ein digitales Covid-Zertifikat. Dank einer ganzheitlich gedachten Prozessarchitektur ist das Zertifikat inhärent datensparsam: Beim Scan werden keine persönlichen Daten abgerufen, es wird lediglich die Authentizität des Zertifikats überprüft. Auch genügt das Zertifikat hohen Sicherheitsansprüchen und die Einbindung in europäische Systeme wurde frühzeitig aufgegleist.

Das Beispiel veranschaulicht vor allem, dass letztlich nicht technische Voraussetzungen oder finanzielle Ressourcen für erfolgreiche Digitalisierung ausschlaggebend sind, sondern Führung und Kultur. Die beim Covid-Zertifikat geschaffene und gelebte Dynamik sollte bei zukünftigen Digitalisierungsprojekten unbedingt beibehalten werden.

Pandemie Covid Zertifikat