Güterzüge

Wie das Rah­men­ab­kom­men un­se­re Sou­ve­rä­ni­tät stärkt

Fak­ten­check Nr. 4 zum Rah­men­ab­kom­men: Die Geg­ner des Rah­men­ab­kom­mens mit der EU be­haup­ten, die Schweiz op­fe­re mit einem sol­chen Ab­kom­men ihre Sou­ve­rä­ni­tät und sei be­reit, im In­ter­es­se der Gross­kon­zer­ne ihre Seele zu ver­kau­fen. Eine ge­naue­re Be­trach­tung zeigt al­ler­dings: Im Ver­gleich zur heu­ti­gen Si­tua­ti­on würde ein Rah­men­ab­kom­men die Sou­ve­rä­ni­tät der Schweiz ge­gen­über der EU sogar stär­ken.

Be­haup­tung: Durch das Rah­men­ab­kom­men ver­liert die Schweiz ihre Selbst­be­stim­mung, das fö­de­ra­lis­ti­sche Sys­tem und die di­rek­te De­mo­kra­tie.

Tat­sa­chen: Das Rah­men­ab­kom­men um­fasst nur fünf Ver­trä­ge aus dem Paket der Bi­la­te­ra­len I: Per­so­nen­frei­zü­gig­keit, Land­wirt­schaft, Land- und Luft­ver­kehr sowie die ge­gen­sei­ti­ge An­er­ken­nung von Pro­dukt­zer­ti­fi­zie­run­gen. Durch sie neh­men Schwei­zer Un­ter­neh­men und Bür­ger gleich­be­rech­tigt am eu­ro­päi­schen Bin­nen­markt teil. Damit dies mög­lich ist, müs­sen in der Schweiz die­sel­ben Re­geln gel­ten wie in der EU. Tat­säch­lich be­folgt die Schweiz be­reits seit 2002 die EU-Re­geln in den Be­rei­chen, wel­che von die­sen fünf Ab­kom­men ab­ge­deckt wer­den. Dies hat nie zu nen­nens­wer­ten Pro­ble­men ge­führt. Das Rah­men­ab­kom­men än­dert an die­ser Si­tua­ti­on zu­nächst ein­mal nichts.

Al­ler­dings ver­pflich­tet das Rah­men­ab­kom­men die Schweiz, in Zu­kunft die Wei­ter­ent­wick­lun­gen des EU-Rechts in den von den fünf Ver­trä­gen um­fass­ten Be­rei­chen zu über­neh­men. Eine Über­nah­me von EU-Rechts­vor­schrif­ten in na­tio­na­les Recht würde aber auch in Zu­kunft immer nur unter Ein­hal­tung un­se­rer ei­ge­nen Rechts­set­zungs­ver­fah­ren er­fol­gen. Dafür ge­währt das Rah­men­ab­kom­men der Schweiz je­weils eine Um­set­zungs­frist von zwei Jah­ren. Wird gegen einen Ge­set­zes­ent­wurf das Re­fe­ren­dum er­grif­fen, er­hält die Schweiz ein wei­te­res Jahr Zeit, um die­ses durch­zu­füh­ren. Der Rah­men­ver­trag re­spek­tiert somit das di­rekt­de­mo­kra­ti­sche Sys­tem der Schweiz voll­um­fäng­lich.

Ent­schei­det die Schweiz je­doch, einen EU-Rechts­akt nicht zu über­neh­men, muss sie mit den Kon­se­quen­zen leben: Die EU kann ver­hält­nis­mäs­si­ge Ge­gen­mass­nah­men er­grei­fen. Falls die Schweiz bei­spiels­wei­se eine neue Richt­li­nie im Land­ver­kehr nicht über­neh­men will, kann die EU den frei­en Zu­gang von Schwei­zer Trans­port­un­ter­neh­mern in die EU ein­schrän­ken. Die EU kann je­doch keine un­ver­hält­nis­mäs­si­gen oder sach­frem­den Ge­gen­mass­nah­men mehr tref­fen, so wie sie das mo­men­tan mit der Nicht­an­er­ken­nung der Bör­sen­äqui­va­lenz tut – no­ta­be­ne ohne Rah­men­ab­kom­men.

Ab­ge­se­hen von den fünf be­ste­hen­den und allen zu­künf­ti­gen Bin­nen­markt­ab­kom­men greift das Rah­men­ab­kom­men nicht in das Schwei­zer Rechts­sys­tem ein. Es greift nicht in die Steu­er­ho­heit der Schweiz ein, be­rührt die Aus­sen- und Han­dels­po­li­tik der Schweiz nicht, macht keine Vor­schrif­ten be­züg­lich Zivil- und Straf­sa­chen, und auch das fö­de­ra­lis­ti­sche Sys­tem der Eid­ge­nos­sen­schaft wird nicht tan­giert. Kurz: aus­ser­halb der Bin­nen­markt­ab­kom­men bleibt alles beim Alten.

Mit dem Rah­men­ab­kom­men wird die Sou­ve­rä­ni­tät der Schweiz sogar ge­stärkt: In Zu­kunft kann die Schweiz an der Aus­ar­bei­tung des sie be­tref­fen­den EU-Rechts mit­ar­bei­ten und die­ses in ihrem Sinne be­ein­flus­sen.

Üb­ri­gens: Wuss­ten Sie, welch bunte Blü­ten der Fö­de­ra­lis­mus in der EU manch­mal treibt? Fö­de­ra­lis­mus und Sub­si­dia­ri­tät ge­hö­ren seit sei­ner Grün­dung 1848 zu den Grund­prin­zi­pi­en un­se­res Bun­des­staa­tes, und wir sind zu Recht stolz dar­auf. Auch unter den EU-Mit­glie­dern gibt es heute aus­ge­spro­chen fö­de­ra­lis­tisch auf­ge­bau­te Staa­ten wie Deutsch­land, Ös­ter­reich oder Bel­gi­en. In Bel­gi­en ist der Fö­de­ra­lis­mus be­son­ders aus­ge­prägt und führt manch­mal zu er­staun­li­chen Re­sul­ta­ten. Die Sou­ve­rä­ni­tät der ins­ge­samt sie­ben re­gio­na­len Par­la­men­te geht so weit, dass sie sogar die Aus­sen­po­li­tik der ge­sam­ten EU zu blo­ckie­ren ver­mag. Als 2016 das Frei­han­dels­ab­kom­men zwi­schen der EU und Ka­na­da ra­ti­fi­ziert wer­den soll­te, muss­ten die­sem erst noch die bel­gi­schen Re­gio­nal­par­la­men­te zu­stim­men, weil ein­zel­ne Teile des Ab­kom­mens in ihren Kom­pe­tenz­be­reich fie­len. Erst nach zähen Ver­hand­lun­gen mit der wal­lo­ni­schen Re­gio­nal­re­gie­rung und dank in­nen­po­li­ti­schen Zu­ge­ständ­nis­sen er­wirk­te die bel­gi­sche Re­gie­rung die Zu­stim­mung des wal­lo­ni­schen Par­la­ments, das ge­ra­de ein­mal 0,7 Pro­zent der Be­völ­ke­rung der EU ver­tritt. Dies wäre, wie wenn in der Schweiz für ein Frei­han­dels­ab­kom­men die Zu­stim­mung aller 26 Kan­to­ne nötig wäre und der Kan­ton Zü­rich dem Ab­kom­men nicht zu­stim­men könn­te, weil das Stadt­par­la­ment von Win­ter­thur seine Zu­stim­mung ver­wei­gert.


FAK­TEN­CHECK RAH­MEN­AB­KOM­MEN

In un­se­rer Som­mer­se­rie «Fak­ten­checks zum Rah­men­ab­kom­men» sind be­reits fol­gen­de Bei­trä­ge er­schie­nen:

1. Uups! 60 Pro­zent des Stimm­vol­kes glatt ver­ges­sen

2. Dür­fen wir nur noch im Som­mer schwim­men?

3. Warum An­ge­la Mer­kel nie Bun­des­rä­tin wer­den kann

5. Die Steu­er­ho­heit der Kan­to­ne bleibt ge­wahrt

6. Rah­men­ab­kom­men stärkt Schwei­zer Bil­dungs­sys­tem

7. Lohn­schutz bleibt Sache der So­zi­al­part­ner

8. Die Mär vom Tod der Kan­to­nal­ban­ken

9. Warum es falsch ist, die Op­fer­rol­le ein­zu­neh­men

10. Un­se­re Agrar­po­li­tik bleibt ei­gen­stän­dig