Personenfreizügigkeit aufgeben? Nein danke!
In regelmässigen Abständen wird das Argument ins Feld gebracht, die Personenfreizügigkeit mit den EU-EFTA-Ländern würde die Schweizer Bürgerinnen und Bürger schlechterstellen und die Kündigung des Abkommens mit der EU würde sogar Wohlfahrtsgewinne ermöglichen. Auf diesen Standpunkt stellte sich jüngst Reiner Eichenberger in einem «NZZ»-Beitrag. Man kann die Forderung vorsichtig als mutig bezeichnen oder einfach als nur populistisch. Ökonomisch ist die Sache klar: Die Personenfreizügigkeit hat es in den letzten 20 Jahren ermöglicht, dass sich die Schweizer Wirtschaft vor allem auf wertschöpfungsintensive Tätigkeiten konzentrieren konnte und international ausgerichtete Unternehmen von hier aus erfolgreich tätig sein können. Und der Staat eine Unmenge an Steuererträgen generierte.
Was wäre dann die Alternative zur Personenfreizügigkeit mit der EU? Es gibt verschiedene Modelle, die Zuwanderung zu steuern. Diese sind entweder grottenineffizient oder wären politisch kaum mehrheitsfähig. Eine Gebühr beispielsweise für Immigranten aus der EU würde innen- wie aussenpolitisch kaum akzeptiert. Oder eine Selektion à la Kanada oder Australien ist nur auf dem Papier zielführend, in der Praxis ergeben sich lange Wartezeiten und eine doch oft ineffiziente Selektion der Zuwanderung. Demgegenüber steht die Personenfreizügigkeit, wo Arbeitgeber sofort selbst entscheiden können, ob eine Person aus dem EU-/EFTA-Raum den Qualifikationsansprüchen entspricht und eingestellt wird. Es braucht keine Sonderbewilligung, kein langes Warten auf die Genehmigung und kein bürokratischer Aufwand. Kurzum: Die Zuwanderung gemäss der Personenfreizügigkeit erfolgt nachfrageorientiert und nicht politisch gesteuert.
Blicken wir zurück in die Jahre vor der Einführung der Personenfreizügigkeit: Damals hatten wir ein Kontingentierungsregime. Die Zuwanderung war stark. Die Kontingentierung bremste die Zuwanderung keineswegs, auch weil im politischen Lobbying alles daran gesetzt wurde, dass die Kontingente gross genug blieben. Gerade für gut Qualifizierte aber war es in den 90er-Jahren attraktiver, in der EU eine Stelle anzutreten, weil hier die Personenfreizügigkeit galt. Stellen Sie sich vor: Sie wären ein norwegischer Chemiker und hätten ein Angebot aus der Schweiz, aus Deutschland und aus Frankreich. Alle Arbeitsverträge würden auf ihrem Tisch liegen. Nehmen wir an, die Angebote wären vergleichbar. Derjenige aus der Schweiz enthält den Passus: «Der Vertrag wird rechtsgültig, sobald die kantonale Verwaltung diesen genehmigt hat. Dies kann einige Wochen dauern.» Wie würden Sie sich entscheiden?
Das Qualifikationsniveau der Zuwanderung aus der EU/EFTA hat sich in den letzten 20 Jahren sehr positiv entwickelt. Es wanderten viele gut und sehr gut qualifizierte Personen ein. Nur dadurch war es möglich, die Produktivität pro Arbeitsstunde stärker zu erhöhen als im Ausland. Nach den sehr schwierigen 90er-Jahren fasste die Schweizer Wirtschaft wieder Tritt (vgl. hier). Trotz hoher Löhne und hoher Kosten nahm das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf absolut deutlich stärker zu als in den Nachbarländern, obwohl wir mit dem starken Franken zu kämpfen hatten. Und obwohl sich Krise an Krise reihte. Die Personenfreizügigkeit war ein wichtiger Grund dafür, dass die Wirtschaftsentwicklung der Schweiz in den letzten 20 Jahren so beeindruckend war.
Blicken wir noch in die Zukunft: Die demografische Entwicklung ist brutal. In der Schweiz werden in den nächsten Jahren insgesamt über 400'000 Personen weniger das erwerbsfähige Alter erreichen, als pensioniert werden. Ohne Zuwanderung würden wir das Wachstum abschneiden. Die Personenfreizügigkeit wird hier eine Teillösung bringen. Werfen wir nicht weg, was gut funktioniert und sich bewährt hat.