Deckel drauf und gut? Die EU-Energiepreisdeckel und was sie für die Schweiz bedeuten
Europäische Länder haben fast 700 Milliarden Euro zur Abfederung hoher Energiepreise gesprochen. Die EU versucht die Energiepreise zurechtzubiegen. Das birgt Herausforderungen für die Schweiz. Vor allem aber zeigt es, dass es nur drei Prioritäten für die Energiepolitik geben kann: Zubau, Zubau und Zubau.
In der Schweizer Energiepolitik gibt es einen Deckel mit Kultstatus: den Eierdeckel. 1988 zeigte Bundesrat Adolf Ogi der Bevölkerung, wie man sparsam Eier kocht: Zwei Fingerbreit Wasser in die Pfanne und Deckel drauf – das war der Startschuss zur ersten grossen Energieeffizienz-Kampagne des Bundes. 35 Jahre später sprechen wir über ganz andere Deckel. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Energiepreise in Europa explodieren lassen.
Der Gaspreis lag im Sommer zeitweise um das Zwanzigfache über dem Vorjahr. Die Strompreise ziehen mit und stellen nicht wenige Privathaushalte und Unternehmen mittlerweile vor existenzielle Probleme. Viele Länder und insbesondere die EU sehen in der Deckelung der Preise das geeignetste Mittel, um dieser Explosion entgegenzuwirken: Die Märkte seien irrational geworden und würden nicht mehr richtig funktionieren, wird argumentiert. Die Brechstange sei deshalb angebracht. Während die Politik fieberhaft nach Lösungen sucht, stellt sich bei vielen Experten ein Unbehagen ein angesichts der kursierenden Ideen. Das Grundproblem: Anstatt sich auf die Energieproduktion zu fokussieren, versucht die Politik sich die Marktkräfte gefügig zu machen. Damit geht sie jedoch nicht die Ursache – das knappe und unsichere Energieangebot – der aktuellen Situation an, sondern bekämpft die Symptome. Das ist kontraproduktiv, weil Knappheitssignale bei Preisregulierungen nicht mehr greifen: Wer soll noch Energie sparen, wenn die Preise künstlich tief gehalten werden? Wer soll in zusätzliche Produktion investieren? Die Preisdeckel-Pläne der EU dürften sich im besten Fall als wirkungsarm und im schlimmsten Fall als kolossale Fehleinschätzung entpuppen.
Was läuft in der EU?
Die EU-Kommission hat bereits Ende September beschlossen, Erträge von Erneuerbaren, KKW und Braunkohle (sog. «inframarginale Technologien») über 180 Euro pro Megawattstunde abzuschöpfen und an die Verbraucher umzuverteilen (siehe Abb. 1). Dabei wird immerhin nicht direkt in den Strommarkt eingegriffen, sondern Erträge werden «nur» nachträglich abgezapft. Davon erhofft man sich «den Fünfer und s Weggli»: Haushalten und Unternehmen soll geholfen werden, ohne dass am Markt durch einen künstlich tiefen Preis ein teurer Nachfrageüberhang entsteht. Ökonomisch gesprochen wird ein Teil der Produzentenrente im Strommarkt den Konsumenten übertragen, vermeintlich ohne dass ein Verlust entsteht.
Das ist findig, funktioniert aber nur aus einer statischen Sicht. In einer realen, dynamischen Welt kriegt man auch mit dieser Massnahme am Ende nur einen halben Fünfer und ein paar Brösmeli des Weggli. Dafür gibt es drei Gründe:
- Erstens, obwohl die EU nicht direkt den Marktpreis deckelt, um eine steigende Nachfrage zu verhindern, wird mittelfristig wohl trotzdem mehr Strom konsumiert, da Geld bei Stromanbietern abgeschöpft und an die Verbrauchenden rückverteilt wird (Einkommenseffekt). Das wäre im Hinblick auf die Versorgungssicherheit sehr schlecht.
- Zweitens lindert der Deckel von 180 Euro die hohen Marktpreise nicht, weil der Gewinn erst nach der Preisbildung abgeschöpft wird. Im Gegenteil führt er wohl dazu, dass die Produzenten stärker auf teuren Strom aus Gaskraftwerken setzen und über den komplexen Stromhandel einen Teil der Erträge weiterhin zurückbehalten. Das ist nicht glorreich, aber realistisch: Repression macht eben erfinderisch.
- Drittens verursacht jede Umverteilung Reibungsverluste. Volkswirtschaftlich ist die Gewinnabschöpfung also sicher ein Verlustgeschäft. Als Konjunkturmassnahme ist sie ineffizienter und teurer als zum Beispiel die bewährte Kurzarbeit, da zuerst eine Bürokratie aufgebaut werden muss, um sie umzusetzen.
Zurzeit wird auch über ähnliche Massnahmen im Gasbereich diskutiert. Die Diskussion dreht sich vor allem um das «iberische Modell», in dem Gas für die Stromproduktion staatlich subventioniert wird, was die Strompreise drückt (s. Abb. 2). Diese Massnahme ist vor allem eins: teuer. Denn der Staat deckt damit einfach einen Teil der Produktionskosten. Zwar haben Spanien und Portugal damit gewisse Erfolge erzielt, aber die volkswirtschaftlichen Effekte dürften negativ ausfallen. Nicht zuletzt deswegen spaltet diese Idee die EU-Mitgliedsstaaten. Daneben wird auch eine Reihe anderer, eher technischer Massnahmen diskutiert, doch dort ist noch vieles im Unklaren.
Was bedeuten diese Massnahmen nun für die Schweiz?
Als Drittstaat beteiligt sich unser Land in jedem Fall nicht direkt an den Preisdeckeln der EU. Schweizer Strom- und Gaslieferanten wären also nicht an die Vorgaben gebunden. Es würde auch kein Ertrag abgeschöpft oder umverteilt. Im besten Fall würden wir sogar von subventioniertem Strom aus der EU profitieren und als Investitionsstandort für erneuerbare Energien an Bedeutung gewinnen. Doch die EU hat bereits gelobt, Vorteilsnahme durch Drittstaaten zu verhindern.
Wahrscheinlicher wird die europäische Politik also vor allem gewichtige Herausforderungen für die Schweiz mit sich bringen: Würde die EU tatsächlich Schutzmassnahmen beschliessen, wären Schweizer Firmen gegenüber subventionierten Konkurrenten aus dem Ausland benachteiligt und würden so an Wettbewerbsfähigkeit einbüssen. Es überrascht nicht, dass produzierende Unternehmen in einem Land mit hohen Kosten wie der Schweiz kaum vermögen, plötzlich ein Vielfaches für Energie zu bezahlen. Die Schweiz könnte verleitet sein, mit Gegenmassnahmen zu antworten, um ihre Wirtschaft zu schützen. Diese Situation ist vergleichbar mit einem Währungskrieg, in dem Länder aufgrund einer kurzgedachten Intervention eines Partners, wie hier die EU, in eine Negativspirale von schädlichen Eingriffen gezwungen werden. Auch würden die Massnahmen die energetische Grosswetterlage verschlechtern, da der Energieverbrauch zu- und der Anreiz zum Sparen von Strom und Gas abnehmen würde. Zuletzt bedürfen die Subventionen viel Geld, das die Schweiz kaum und Europa schon gar nicht hat. Gemäss aktuellen Schätzungen wurden in Europa bereits schwindelerregende 700 Milliarden Franken an Subventionen gegen die hohen Energiepreise gesprochen. Zukünftige Generationen, welche diese Schulden mit Zinseszins abstottern müssen, zahlen einen hohen Preis.
Wie genau die EU weiter vorgeht wird sich in den nächsten Tagen und Wochen weisen. Zurzeit wird unter den Mitgliedsstaaten kontrovers diskutiert. Aus Schweizer Sicht scheint klar: Ein Szenario mit Preisdeckel ohne Ausschluss der Drittstaaten wäre die beste aller schlechten Varianten. Es ist aber eher davon auszugehen, dass die EU ihren Binnenmarkt vollständig schützen will. Dann hat die Schweiz ein grösseres Problem. Unilaterale Gegenmassnahmen würden wenig bringen. Ein Nachvollzug der Massnahmen hätte ökonomisch grosse Risiken.
Die ganze «Übungsanlage» der EU ist vor allem eines: ein Murks. Die ganze Problematik aber Russland zuzuschieben, ist jedoch zu einfach. Die Versorgungsproblematik ist nicht in erster Linie durch den Ukraine-Krieg entstanden, sondern aufgrund der falschen Energiepolitik der letzten Jahre. Dies gilt übrigens auch für die Schweiz: Hätte die Schweizer Politik die Rahmenbedingungen im Energiemarkt so gestaltet, dass Investitionen in die Energieproduktion praktikabel gewesen wären, dann hätten wir heute nicht diese Versorgungsunsicherheiten. Die heutige Politikergeneration ist daher gefordert, die Probleme zu lösen und nicht zu bewirtschaften. Einmal mehr gilt deshalb die Devise: Ausbau, Ausbau, Ausbau. Mehr Stromproduktion ist weiterhin der beste und effizienteste Weg zu einer sicheren Versorgung und tiefen Preisen.