Hohe Ziele, harzige Umsetzung
Im Klima- und Energiebereich stehen grosse Herausforderungen an: Bis 2050 müssen wir unsere Stromproduktion verdoppeln und die Treibhausgasemissionen vier Mal schneller absenken als bisher. Das Parlament hat in der soeben zu Ende gegangenen, letzten Session vor den Wahlen zwei grosse Brocken aus diesen Bereichen beraten: Den Mantelerlass im Strombereich und das CO2 Gesetz.
In den Medien las man, dass eine «Fülle von Neuerungen» erreicht wurde und «alle Abstriche machen mussten». Es stimmt: Mantelerlass und CO2 Gesetz bringen wichtige Fortschritte. Aber der grosse Wurf, der angesichts der grossen Herausforderungen nötig wäre, blieb aus. «Notwendig aber nicht hinreichend» hört man bei den weniger Begeisterten. Es scheint ein Kompromiss geworden zu sein, bei dem nicht alle, sondern niemand schmerzhafte Abstriche machen musste. Damit wurden die heissen Eisen einfach verschoben – politisch prokrastiniert, sozusagen.
Ich möchte klar betonen: Beide Vorlagen gehen in die richtige Richtung und sind unterstützenswert. Der Mantelerlass bringt überfällige Änderungen auf dem Weg zur Versorgungssicherheit. Und die Neuauflage des CO2-Gesetzes könnte die Orientierungslosigkeit beenden, die sich seit dem Schiffbruch des letzten CO2-Gesetzes an der Urne in der Klimapolitik breit gemacht hat. Aber die Vorlagen geben auch Anlass zu ernüchternden Erkenntnissen:
Erstens wird die Idealpolitik von der Realpolitik eingeholt. Mantelerlass und CO2-Gesetz sind beide ambitioniert gestartet, von einer «entscheidenden Vorlage für die Versorgungssicherheit» (Ständerätin Lisa Mazzone) war gar die Rede im Parlament. Fortschritte wurden erzielt, aber aus der (berechtigen) Angst vor Referenden wurde keine wirklich schmerzhaften Kompromisse eigegangen. Realpolitisch muss man feststellen, dass sich Grosserlasse nicht zu grossen Schritten eignen.
Zweitens zieht sich die Politik immer stärker auf hochgesteckte Ziele zurück, da diese niemandem weh tun. Im Mantelerlass wurde ein Ausbauziel von 45 TWh pro Jahr erneuerbare Energie gesetzt. Zum Vergleich: die Schweiz verbraucht momentan 60 TWh pro Jahr. Im Klimabereich wurde dieses Jahr das Netto Null Ziel bis 2050 ins Gesetz geschrieben. Diese Ziele erscheinen, angesichts des harzigen Fortschritts bei den Massnahmen, als umso ambitionierter.
Drittens hält vermehrt Symbolpolitik Einzug. Um harte Entscheidungen zu umgehen, gelangen Kuriositäten in die Gesetze. Ein Beispiel im CO2-Gesetz ist, dass der Gesetzgeber zwar die Höhe der Klimakompensationen bei Treibstoffen bestimmen will, aber gleichzeitig Angst vor höchst unpopulären Kostenexplosionen an der Tankstelle hat. Darum schreibt er neben der Menge auch gleich den maximalen Preis der einzukaufenden Kompensationen vor. Dass die Taktik «bitte zehn Brötchen, aber maximal zum Preis von fünf» an den Marktrealitäten scheitern wird, liegt auf der Hand.
Die sich einstellende Ernüchterung ist Ausdruck der unangenehmen Realität, dass Politik nun mal nicht auflösbare Widersprüche aufweist: Der Klimaschutz hält beharrlich einen Top-Platz im Schweizer Sorgenbarometer inne, aber nur wenige sind auch effektiv bereit, ihr eigenes Verhalten anzupassen. Kaum jemand bestreitet die Notwendigkeit des Ausbaus der Stromversorgung, aber bitteschön NIMBY – «not in my backyard!». Wir befinden uns auf einer ständigen Gratwanderung zwischen dem Erreichen der Ziele und dem Verlust des Rückhalts in der Gesellschaft. Und Politik ohne Rückhalt ist in einer direkten Demokratie wie der Schweiz keine Option.
Um trotzdem Fortschritte in der Energie- und Klimapolitik zu erreichen, braucht es die Bereitschaft, die eigenen roten Linien zu überdenken. Diese ist vor den Wahlen ziemlich verloren gegangen.
Dem neuen Parlament wird sich die Chance bieten, endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Dazu folgende mindestens so einfache, wie unpopuläre Idee: Jede Partei verzichtet in den grossen Dossiers auf eine ihrer roten Linien. Am Beispiel der Energiepolitik könnte das konkret so aussehen: Die Grünen geben ihre Fundamentalopposition zum Ausbau jeglicher Stromproduktion in der Natur auf und die SP ihre gegen die Strommarktöffnung. GLP und Mitte öffnen sich für eine Aufhebung des Kernkraftverbots, die FDP für gezielte Fördermittel und die SVP für die Windkraft.
Der Philosoph Immanuel Kant sagte einst, dass das Richtige tun und etwas gerne tun sich gegenseitig ausschliessen. Insofern plädiere ich für eine Art demokratischen Masochismus: Die Qualität politischer Arbeit sollte - zumindest in einer Konsensdemokratie wie der Schweiz - nicht nur daran gemessen werden, wie viele eigene Forderungen man durchgesetzt hat. Sondern auch daran, wie viele schmerzhafte Kompromisse man eingegangen ist.
Die Erstpublikation dieses Beitrags erfolgte am 1. Oktober 2023 in der NZZ am Sonntag.