Mut zu Ordnungspolitik

economiesuisse hat eine Studie über die Grösse des staatlichen Fussabdrucks in der Wirtschaft erarbeitet. Dessen Umfang hat selbst Monika Rühl überrascht. Im Gespräch mit der Redaktionsleitung des Magazins «Schweizer Monat» erläutert sie, wo sie den Staat in der Pflicht sieht – und wo nicht.

Interview: Bruno Affentranger, Redaktionsleitung Sonderthema 24 des Magazins «Schweizer Monat» (Ausgabe September 2015)

Frau Rühl, Wettbewerb ist ein zentrales Element der freien Marktwirtschaft. Ist das auch aus Ihrer Sicht so?

Rühl: Selbstverständlich. Der Wettbewerb führt in der längeren Frist zu insgesamt besseren volkswirtschaftlichen Resultaten. Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte bestätigt dies klar.

Welche Faktoren gewichten Sie noch höher?

Rühl: Wettbewerb bedingt Zurückhaltung bei staatlichen Eingriffen und natürlich Vertrauen in eine liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Entsprechend sind Aspekte wie Transparenz, Selbstbestimmung, Demokratie und last but not least die individuelle Befähigung und Verantwortung weitere Grundpfeiler unserer Gesellschaft, ohne dass ich hier eine Hierarchie erstellen möchte.

In der Bundesverfassung ist die Wirtschaftsfreiheit als tragendes Element der schweizerischen Wirtschaftsordnung verankert. Welche Rolle kommt dem Staat als Mitakteur in dieser Wirtschaftsfreiheit im idealen Fall zu?

Rühl: Gemäss Bundesverfassung kommt dem Staat in wirtschaftlichen Fragen klar eine subsidiäre Rolle zu. Er muss dafür sorgen, dass sich die Privatinitiative möglichst frei entfalten kann. Im Idealfall wäre der Staat selbst nicht wirtschaftlich aktiv. Aber das ist natürlich unrealistisch.

Ist der Staat als Leistungserbringer in der Tat durchwegs schlechter als ein privatwirtschaftlich agierendes Subjekt?

Rühl: Ob der Staat besser oder schlechter agiert, ist aus meiner Sicht nicht die entscheidende Frage. Viele Staatsunternehmen erbringen sehr gute Leistungen und sind auch in einem internationalen Wettbewerb erfolgreich. Es geht in diesem Zusammenhang aber um ein liberales Modell, das der privaten Entfaltung möglichst breiten Raum bieten soll. Innovation ist Triebkraft der Weiterentwicklung. Beim Staat als Leistungserbringer besteht die immanente Gefahr, dass einerseits politische Entscheidungen zu Ineffizienzen führen und andererseits das Streben nach Besitzstandswahrung einer Weiterentwicklung entgegensteht.

Was Private können, sollte der Staat lassen.

In der economiesuisse-Studie «Staat und Wettbewerb – mehr Raum für Privatinitiative schaffen» gehen Sie auf die realen Verhältnisse ein und liefern eine Analyse der Gegenwart. Was hat Sie bei den Befunden am meisten überrascht?

Rühl: Intuitiv ging ich von einer relativ freien und individuellen Gestaltung wirtschaftlicher Aktivitäten in der Schweiz aus. Erst eine systematische Abbildung der vielfältigen staatlichen Einflüsse zeigt auf, dass der Staatssektor wesentlich grösser und die Gestaltungsfreiheit wesentlich kleiner ist, als ich angenommen hatte. Dass die Hälfte der Preise entscheidend staatlich beeinflusst sind, ist schon sehr überraschend.

Warum?

Rühl: Erstens wird in der Schweiz die staatliche Einwirkung über drei politische Ebenen in der Kumulation weniger ausgeprägt wahrgenommen, zweitens ist die Regelungsdichte gerade für die Preisbildung sehr hoch und drittens haben staatliche Gebühren einen sehr weitgehenden Einfluss.

Welche Ergebnisse aus den Sektorenbetrachtungen haben Sie erwartet? Warum?

Rühl: Wenig überraschend ist der grosse Fussabdruck des Staates in der Landwirtschaft. Das ist allgemein bekannt. Am Bruttoinlandprodukt hat die Landwirtschaft aber nur einen relativ geringen Anteil. Auch dass die Stromerzeugung und -verteilung praktisch vollumfänglich in den Händen von Unternehmen im Staatsbesitz liegt, ist bekannt. Diese Unternehmen agieren allerdings weitgehend wie private Akteure.

Wer die Studie liest, muss mindestens vier Dinge konstatieren: Erstens, der Staat redet in mehr Bereichen mit als gedacht, nämlich überall. Sind die Folgen positiv oder negativ?

Rühl: Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Rahmen, aber vor allem auch um den volkswirtschaftlichen Nutzen zum Wohle aller. Hier fahren wir langfristig besser und sind für künftige Herausforderungen besser gewappnet, wenn der Raum für die Privatinitiative möglichst gross ist. Es geht somit weniger um die statische Situation, sondern um die künftige Entwicklung. Wenn der Staat der Privatinitiative künftig mehr Raum lässt, hat das positive Folgen, im umgekehrten Fall negative.

Zweitens: Sie skizzieren einen Trend des «Verblassens» liberaler Werte in der Öffentlichkeit und in der Politik. Lässt sich diese Entwicklung einer zunehmenden Staatspräsenz nachweisen?

Rühl: In der Studie zeichnen wir ein aktuelles Bild anhand von sechs Dimensionen. Das ergibt den Fussabdruck. Die Entwicklung haben wir an verschiedenen Orten angedeutet, aber nicht im Detail beschrieben. Wir möchten den Blick nicht klagend nach rückwärts wenden, sondern Hinweise für die künftige Gestaltung geben. In der Übersicht am Ende der Studie zeigen wir anhand von Parlaments- und Volksentscheiden, dass in den verschiedenen Bereichen der Fussabdruck als Sinnbild der Staatspräsenz bestenfalls gleich geblieben, in zahlreichen Fällen aber zugenommen hat. In der auslaufenden Legislatur sind es hingegen nur sehr vereinzelte Fälle, in denen sich der Staat zugunsten der Privatinitiative zurückgezogen hat. Dies war um die Jahrtausendwende noch anders, wie es etwa das Beispiel der Telekommunikationsliberalisierung zeigt. Auch die staatlichen Unternehmen dehnen ihre wirtschaftliche Tätigkeit aus. Plakativ zeigt sich das etwa, wenn die Post die Schalterhallen zu Verkaufsflächen umwandelt.

Drittens: Man muss sich als Aussenstehender das Entstehen der vorliegenden Studie als schwierigen Prozess vorstellen. Auch staatlich beeinflusste Unternehmen sind in der economiesuisse engagiert. Wie hat dieser Umstand die Diskussion um die Studie und ihre Schlüsse geprägt?

Rühl: Die staatlich beeinflussten Unternehmen aus unserem Mitgliederkreis sind in unseren Gremien – auch in unserer Kommission für Wettbewerbsfragen – vertreten und haben ihren Input in die Studie eingebracht. Dabei ging es weniger um die Grundrichtung, sondern um eine korrekte und zutreffende Beschreibung des Zustands. Verständlicherweise haben sich staatlich beeinflusste Unternehmen aber zur Wehr gesetzt, wenn sie den Eindruck hatten, sie würden ungerechtfertigt an den Pranger gestellt. economiesuisse bekennt sich klar zum Wettbewerb. Die interne Kommission für Wettbewerbsfragen hat 2010 wettbewerbspolitische Grundsätze für die Beurteilung wettbewerblicher Problemstellungen verfasst. Diese wurden 2011 mit Grundsätzen für das Verhältnis des Staates im Wettbewerb ergänzt. Beide Grundlagendokumente wurden vom Vorstand jeweils ohne Gegenstimmen gutgeheissen. Für uns sind nicht Einzelinteressen, sondern die gesamtwirtschaftlichen Interessen massgebend. Die kritische Beleuchtung der Rolle des Staates wendet sich nicht gegen diese Unternehmen, sondern soll ein Aufruf sein, die unternehmerischen Freiheiten zu vergrössern. Die staatlich beeinflussten Unternehmen suchen die staatliche Beherrschung nicht. Sie verhalten sich in ihren Aktivitäten denn auch marktorientiert und stehen in aller Regel auch mit ihren Tätigkeiten im Wettbewerb. Die Frage der staatlichen Beteiligung und der entsprechenden Eigentümerstrategie ist eine politische Frage. Sie steht nicht im Vordergrund unserer Studie, so sehr eine Verringerung des staatlichen Anteils aus ordnungspolitischen Überlegungen wünschbar wäre.

Viertens: Hier liegt eindeutig ein «ordnungspolitischer Kompass» vor, kein Forderungskatalog. Warum ist Letzteres nicht der Fall?

Rühl: Es ging uns um ein Gesamtbild. Wenn wir einen Forderungskatalog aufgestellt hätten, würde sich die Diskussion auf einzelne Aspekte fokussieren und vom Überblick ablenken. Die Studie ist nicht das Ende, sondern der Beginn. Wir werden einerseits bei den einzelnen Vorlagen und Vorschlägen prüfen, ob sie zu einer Vergrösserung oder zu einer Verkleinerung des staatlichen Fussabdrucks beitragen. Dies ist eine Daueraufgabe. Weiter werden wir die Situation in einzelnen Sektoren darlegen und aufzeigen, wie viel Spielraum für die Privatinitiative besteht. Ein erstes Beispiel ist ein «Dossierpolitik» mit dem Titel «Der Staat als oberster (Ver)hüter – Werbeverbote schaden der Wirtschaft». Ein weiterer Bereich, der sich zur Analyse aufdrängt, ist das Gesundheitswesen.

Sie schreiben, dass der Fussabdruck des Staates – das heisst: dessen Präsenz in der Privatwirtschaft – sich auf das notwendige Minimum beschränken solle. Wie gross ist dieses notwendige Minimum?

Rühl: Das kann nicht generell, sondern nur fallweise beurteilt werden. Die Grundregel muss sein, dass der Staat nicht wirtschaftlich aktiv sein soll, wenn das Private auch tun können. Diese Subsidiarität ist auch in der Bundesverfassung verankert. Es wäre aber falsch, nun einfach nach einer Privatisierungswelle zu rufen oder alle staatlichen Leistungen zu verteufeln. Vieles funktioniert gut, denken wir etwa an die Stromversorgung. Aber es ist notwendig, alle Schritte zur Reduzierung zu unternehmen. Das können auch kleine sein, etwa wenn die Post ihr Detailsortiment verkleinert statt vergrössert.

Ein zentraler Vorschlag ist unter generellen Massnahmen aufgelistet: Bei Gesetzesvorlagen soll der Fussabdruck des Staates nicht grösser werden dürfen. Ist dieses Axiom in den Köpfen der Legislativen schlicht vergessen gegangen?

Rühl: Die Legislative ist Teil des Staates und schaut vielleicht nicht genügend kritisch hin. Gerade das ist auch ein Grund, wieso für uns das Milizprinzip so wichtig ist. Milizparlamentarier mit Wirtschaftserfahrung beurteilen die Entwicklungen nicht nur mit der Staatsbrille, sondern stets auch aus ihrer eigenen Wirtschaftsperspektive.

Mit welchen Mitteln soll das zitierte notwendige Minimum erreicht werden?

Rühl: Wir haben dafür im Wesentlichen fünf Prinzipien definiert. Das erste Prinzip erfordert die Schaffung von Transparenz. Diese umfasst eine regelmässige Berichterstattung der Exekutiven an die Öffentlichkeit und an die Parlamente als Aufsichtsorgane sowie der Grundsatz, dass bei allen neuen Geschäften, die Staatsunternehmen betreffen, der Einfluss auf den Fussabdruck im Rahmen der Botschaft an das Parlament dargelegt werden muss. Konkret stellt sich hier jeweils die Frage, ob durch die Massnahme der Fussabdruck insgesamt vergrössert oder verkleinert wird. Weiter muss begründet werden, weshalb die vorgeschlagene Variante der freiheitlichen Wirtschaftsordnung am besten Rechnung trägt. Als Beitrag zur Transparenz schlagen wir ein Nationalfondsprojekt vor, das staatliche und private Leistungen in verschiedenen Sektoren nach einem internationalen Benchmarking vergleicht. Dem jeweils untersuchten Fall sind je ein Beispiel mit einem grossen und einem kleinen Fussabdruck gegenüberzustellen. Das zweite Prinzip umfasst institutionelle Instrumente wie die Einführung eines höheren Quorums bei Parlaments- und Regierungsbeschlüssen, die zu einer Vergrösserung des Fussabdrucks führen – analog zur Schuldenbremse –, und die zeitliche Befristung oder provisorische Einführung von heiklen Gesetzen («Sunset Clauses»). Schliesslich gehören zu den institutionellen Instrumenten auch die Befristung aller Subventionen und die Befristung aller Mandate für öffentliche Unternehmen. Das dritte Prinzip fokussiert auf Reduktionsziele und -massnahmen: Der Bundesrat soll Massnahmen formulieren und priorisieren, wie der Fussabdruck reduziert werden kann. Dabei sind die volkswirtschaftliche Relevanz und die Umsetzungschancen zu berücksichtigen. Das vierte Prinzip betrifft die Kantone: Diese müssen eine Übersicht erstellen, über welche Regale sie verfügen, wie diese begründet sind und welche Auswirkungen sie haben. Und das fünfte Prinzip schliesslich umfasst wettbewerbliche Instrumente: Wir schlagen vor zu prüfen, ob in der Schweiz ein Messinstrument zur Qualifizierung staatlicher Finanzierung von Unternehmen einzuführen sei, etwa analog zum Beihilferecht der EU der sogenannte «Market Economic Investor Principle (MEIP)»-Test. Hätte ein vernünftiger privater Investor, der sich von langfristigen Rentabilitätsüberlegungen leiten lässt, eine solche Investition getätigt, oder ist sie politisch motiviert?

Wann darf mit konkreten Forderungen von Ihrer Seite für einzelne Sektoren und in Branchen gerechnet werden?

Rühl: Der ordnungspolitische Kompass ist auf dem Schiff der Wirtschaftspolitik ein zentrales Navigationsinstrument. Er muss bei jeder einzelnen Entscheidung konsultiert und der Kurs entsprechend bestimmt werden. Entsprechend fliessen konkrete Forderungen laufend in die Diskussion ein. Wir werden uns bei den Forderungen nicht an Wirtschaftssektoren und Branchen, sondern an aktuellen Sachthemen orientieren. Erste Forderungen sind etwa im «Dossierpolitik» zur Werbewirtschaft enthalten oder auch in unserer Stellungnahme zur Liberalisierung des Notariatswesens. Bei Letzterem hat sich übrigens der Bundesrat klar für eine Liberalisierung entschieden und geht damit in die von uns vorgeschlagene Richtung.