Heinz Karrer dans une discussion

Heinz Kar­rer im Ge­spräch über die Eu­ro­pa­po­li­tik: Es kann sein, dass jah­re­lang nichts geht

Die Wirt­schaft wurde in den ver­gan­ge­nen Wo­chen ver­schie­dent­lich dazu auf­ge­for­dert, zur Eu­ro­pa­po­li­tik und zu einem Rah­men­ab­kom­men mit der EU Stel­lung zu be­zie­hen. Im Ge­spräch mit Do­mi­nik Feusi, Lei­ter Bun­des­haus­re­dak­ti­on der «Bas­ler Zei­tung», hat eco­no­mie­su­is­se-Prä­si­dent Heinz Kar­rer Fra­gen über ein Rah­men­ab­kom­men mit der EU, Pie­sa­cke­rei und frem­de Rich­ter be­ant­wor­tet.

Braucht die Wirt­schaft ein Rah­men­ab­kom­men?

Ja, aber nicht um jeden Preis. Die Schweiz ist eine Ex­port­na­ti­on. 40 Pro­zent un­se­rer Wert­schöp­fung ma­chen wir im Aus­land und die Hälf­te davon in der EU. Darum hat das Ver­hält­nis der Schweiz mit der EU eine so wich­ti­ge Be­deu­tung. Wir haben ein In­ter­es­se an sta­bi­len Ver­hält­nis­sen, auf die sich die Un­ter­neh­men ver­las­sen kön­nen. Aber es gilt «In­halt vor Zeit». Was für ein Ab­kom­men aus­ge­han­delt wird, ist wich­ti­ger als der Zeit­fak­tor.

Bun­des­rat Cas­sis sagt das auch, aber er sagt gleich­zei­tig, man müsse jetzt «vor­wärts­ma­chen». Ihr Ver­band hat das eben­falls ge­schrie­ben. Was gilt?

Wenn man das Ge­fühl hat, es sei ein gutes Ab­kom­men mög­lich, um die Be­zie­hun­gen mit der EU zu sta­bi­li­sie­ren, dann ist es rich­tig, vor­wärts­zu­ma­chen. Ob das tat­säch­lich die­ses Jahr mög­lich ist, wer­den wir sehen. Die einen sagen, es gebe vor dem Wech­sel an der Spit­ze der EU-Kom­mis­si­on die­ses Jahr die Mög­lich­keit dazu. Die an­de­ren sagen, dass es ge­ra­de wegen der lau­fen­den Brex­it-Ver­hand­lun­gen keine Fort­schrit­te geben werde. Wir wer­den das her­aus­fin­den. Es kann auch sein, dass jah­re­lang nichts geht.

40 Pro­zent un­se­rer Wert­schöp­fung ma­chen wir im Aus­land und die Hälf­te davon in der EU. Darum hat das Ver­hält­nis der Schweiz mit der EU eine so wich­ti­ge Be­deu­tung.

Die Schieds­ge­richts­lö­sung des Bun­des­rats ist nichts an­de­res als die ge­schei­ter­te Burk­hal­ter-Lö­sung mit dem Ge­richts­hof der EU als ent­schei­den­der In­stanz. Sie haben diese be­für­wor­tet. Wes­halb?

Wir haben immer gros­se Fra­ge­zei­chen ge­macht ge­gen­über einer Lö­sung, bei der der EU-Ge­richts­hof bei der Streit­bei­le­gung eine do­mi­nie­ren­de Rolle spielt. Beim Schieds­ge­richt sehen wir das an­ders, denn diese Lö­sung ist nichts, was wir nicht schon in an­de­ren Ver­trä­gen ken­nen wür­den. Das sind un­ab­hän­gi­ge Ge­rich­te, die für die Schweiz ak­zep­tier­bar sind.

In­wie­fern ist das Schieds­ge­richt un­ab­hän­gig, wenn es vor einem Ent­scheid das höchs­te EU-Ge­richt um eine ver­bind­li­che Aus­le­gung von EU-Recht fra­gen muss?

Wenn es um EU-Recht geht, dann ist das die Auf­ga­be des Ge­richts­ho­fes der EU. Um­ge­kehrt wol­len wir ja auch nicht, dass ein an­de­res Ge­richt als das Bun­des­ge­richt unser Lan­des­recht aus­legt. Wenn es zum Streit kommt und die Schweiz etwas nicht ma­chen will und die EU Sank­tio­nen be­schliesst, dann be­ur­teilt aber das Schieds­ge­richt, ob die Sank­tio­nen der EU ver­hält­nis­mäs­sig sind. In Zu­kunft kön­nen wir, wenn die EU uns wie­der ein­mal pie­sackt und zum Bei­spiel po­li­tisch uns die Bör­sen­äqui­va­lenz nur be­schränkt an­er­kennt, an ein Schieds­ge­richt mit Schwei­zer Be­tei­li­gung ge­lan­gen und pro­tes­tie­ren, weil wir das für un­ver­hält­nis­mäs­sig und nicht ge­recht­fer­tigt er­ach­ten. Ohne Markt­zu­gangs­ab­kom­men wür­den die po­li­ti­schen Na­del­sti­che der EU noch zu­neh­men, des­halb ist diese Lö­sung eine Ver­bes­se­rung im Ver­gleich zu heute. Wir kön­nen heute zwar über Re­tor­si­ons­mass­nah­men nach­den­ken, aber ei­gent­lich müs­sen wir Sank­tio­nen von Brüs­sel hin­neh­men.

Noch ein­mal: Das erste Schieds­ge­richt im Pro­zess, an das die Par­tei­en ge­lan­gen kön­nen, das ist doch nicht un­ab­hän­gig, wenn es fak­tisch jede Frage dem Ge­richts­hof der EU vor­le­gen muss.

Es ist ent­schei­dend, von wel­chen Ab­kom­men wir reden. Für uns geht es nur um fünf von rund 120 bi­la­te­ra­len Ab­kom­men, also Per­so­nen­frei­zü­gig­keit, tech­ni­sche Han­dels­hemm­nis­se, Land­ver­kehr, Luft­ver­kehr und Land­wirt­schaft. Zudem sol­len Teile die­ser Ab­kom­men auch noch aus­ge­nom­men wer­den, wie zum Bei­spiel die flan­kie­ren­den Mass­nah­men. Die er­wähn­ten Ab­kom­men haben we­sent­lich mit EU-Recht zu tun, aber das schmä­lert den Vor­teil ge­gen­über der heu­ti­gen Re­ge­lung nicht. Wir haben die Na­del­sti­che beim For­schungs­ab­kom­men oder bei den tech­ni­schen Han­dels­hemm­nis­sen er­lebt.

Ohne Markt­zu­gangs­ab­kom­men wür­den die po­li­ti­schen Na­del­sti­che der EU noch zu­neh­men, des­halb ist diese Lö­sung eine Ver­bes­se­rung im Ver­gleich zu heute.

Eine bes­se­re Va­ri­an­te als ein Rah­men­ab­kom­men wäre ein Ver­trag, wie es die EU mit Ka­na­da ab­ge­schlos­sen hat. Da hat es alles drin, was wir brau­chen, also die Ab­schaf­fung tech­ni­scher Han­dels­hemm­nis­se oder der Zu­gang zum öf­fent­li­chen Be­schaf­fungs­we­sen, aber ohne Per­so­nen­frei­zü­gig­keit, ohne Rechts­über­nah­me und ohne EU-Ge­richt.

Das würde aber be­deu­ten, dass wir die heu­ti­ge at­trak­ti­ve Si­tua­ti­on ver­las­sen wür­den. Wir hät­ten dann we­ni­ger Markt­zu­gang. Ob die EU uns unter an­de­ren Prä­mis­sen wie­der das Glei­che zu­ge­ste­hen würde, da setze ich ein Fra­ge­zei­chen. Das sehen wir ja auch bei den schwie­ri­gen Brex­it-Ver­hand­lun­gen.

Ist die Über­nah­me von EU-Recht im Sinne der Wirt­schaft?

Es ist heute schon so, dass wir die meis­ten tech­ni­schen Nor­men der EU über­neh­men. Die Wirt­schaft hat ein In­ter­es­se, dass die Nor­men in der Schweiz und im Bin­nen­markt nicht weit aus­ein­an­der­klaf­fen. Wir müs­sen aber nicht alles über­neh­men, weder in der Ver­gan­gen­heit, noch in der Zu­kunft. Das ein­zi­ge, was pas­sie­ren könn­te, wären Mass­nah­men der EU.

Das Schieds­ge­richt wäre ganz klar ein Mehr­wert.

Mit der Über­nah­me von tech­ni­schen Nor­men haben wir kaum je ein Pro­blem. An­ders ist es mit po­li­ti­schen Fra­gen, sei es bei der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit oder wie ge­gen­wär­tig beim Waf­fen­recht.

Ge­ra­de sol­che Pro­ble­me haben wir ja bei der ver­zö­ger­ten An­pas­sung der tech­ni­schen Han­dels­hemm­nis­se im letz­ten Jahr er­lebt. Das ist doch der gros­se Vor­teil eines Ab­kom­mens, dass wir eine hö­he­re Rechts­si­cher­heit be­kä­men. Zudem könn­ten wir auch ins­künf­tig über sol­che An­pas­sun­gen ab­stim­men. Wenn wir etwas nicht wol­len und der Mei­nung sind, der Preis sei zu hoch, dann kön­nen wir das ab­leh­nen.

Wir dür­fen zwar dar­über ab­stim­men, aber die EU droht mit Sank­tio­nen. Man schickt uns so­zu­sa­gen mit dem Mes­ser am Hals an die Urnen.

Das haben wir heute genau gleich – mit dem Un­ter­schied, dass wir nichts gegen sol­che Mass­nah­men der EU un­ter­neh­men kön­nen. Mit dem vor­ge­schla­ge­nen Markt­zu­gangs­ab­kom­men wird ein un­ab­hän­gi­ges Schieds­ge­richt die Ver­hält­nis­mäs­sig­keit eine Mass­nah­me über­prü­fen. Das ist ein Fort­schritt ge­gen­über heute.

Der gros­se Vor­teil eines Ab­kom­mens ist, dass wir eine hö­he­re Rechts­si­cher­heit be­kä­men.

Be­steht nicht die Ge­fahr, dass durch die Über­nah­me von EU-Recht die li­be­ra­len Rah­men­be­din­gun­gen hier­zu­lan­de und damit die welt­wei­te Wett­be­werbs­fä­hig­keit der Schweiz ver­lo­ren gehen?

Ich sehe den Punkt. Viel­leicht gibt es dann ein­mal einen Kon­flikt, weil wir eine Wei­ter­ent­wick­lung von EU-Recht aus die­sem Grund nicht mit­ma­chen wol­len. Auf der an­de­ren Seite sehen wir auch, dass die Schwei­zer Ge­setz­ge­bung im Sinne eines Swiss Fi­nish teil­wei­se sogar re­strik­ti­ver ist als das EU-Recht.

Wieso reden Sie ei­gent­lich vom Markt­zu­gangs­ab­kom­men, wie wenn die­ses Rah­men­ab­kom­men den Markt­zu­gang brin­gen würde? Wir haben doch schon Markt­zu­gang.

Die EU sagt, dass es ohne einen Rah­men keine wei­te­ren Markt­zu­gangs­ab­kom­men, bei­spiels­wei­se im Strom- oder im For­schungs­be­reich, geben wird. Zu­gleich haben wir mehr­fach er­lebt, dass die EU uns po­li­tisch Na­del­sti­che ver­setzt und be­ste­hen­de Ab­kom­men nicht mehr ak­tua­li­siert hat. Das Ri­si­ko der Pie­sa­cke­rei ist eine Rea­li­tät. Die­ses Pro­blem müs­sen wir lösen, damit wir wei­ter­hin sta­bi­le Ver­hält­nis­se haben. Das ist be­deu­tungs­voll für die Un­ter­neh­men.

Und das Strom­ab­kom­men ist nötig?

Ja, und zwar aus zwei Grün­den. Ers­tens brau­chen wir Ver­sor­gungs­si­cher­heit. Zwei­tens brau­chen wir auch mor­gen wett­be­werbs­fä­hi­ge Strom­prei­se für Schwei­zer Un­ter­neh­men. Dazu be­nö­ti­gen wir ein sta­bi­les und grenz­über­schrei­tend mög­lichst eng­pass­frei­es Höchst­span­nungs­netz und einen dis­kri­mi­nie­rungs­frei­en Markt­zu­gang. Das alles gibt es nur mit einem in­sti­tu­tio­nel­len Rah­men. Für uns ist al­ler­dings wich­tig, wie die Streit­bei­le­gung genau aus­sieht.

Ist ein Rah­men­ab­kom­men nur ak­zep­ta­bel, wenn es eine Ga­ran­tie gibt, dass die Schweiz nicht wei­ter dis­kri­mi­niert wird?

Ja. Darum braucht es par­al­le­le Ver­hand­lun­gen, ohne eine Ver­knüp­fung. Zum Bei­spiel sind die ak­tu­el­len Äqui­va­lenz­the­men im vor­ge­schla­ge­nen Rah­men nicht ein­ge­bun­den. Eben­so muss über die Ko­hä­si­ons­mil­li­ar­de par­al­lel ver­han­delt wer­den. Was bei den Ver­hand­lun­gen hel­fen kann, muss par­al­lel auf den Tisch. Es kann sein, dass die Ver­hand­lun­gen des­halb län­ger gehen. Wir dür­fen nicht sagen, dass wir trotz­dem ein­ver­stan­den sind, auch wenn wir zum Bei­spiel bei der Bör­sen­äqui­va­lenz kein Zu­ge­ständ­nis er­hal­ten. Hallo? Wer sind wir denn?

Wir haben mehr­fach er­lebt, dass die EU be­ste­hen­de Ab­kom­men nicht mehr ak­tua­li­siert hat. Das Ri­si­ko der Pie­sa­cke­rei ist eine Rea­li­tät.

Sol­len wir die Ko­hä­si­ons­mil­li­ar­de be­schlies­sen, bevor wir von der EU etwas er­hal­ten, zum Bei­spiel die end­gül­ti­ge An­er­ken­nung der Äqui­va­lenz bei der Fi­nanz­markt­ge­setz­ge­bung?

Nein, dar­über soll­te der Bun­des­rat unter Wür­di­gung der Ver­hand­lungs­re­sul­ta­te ent­schei­den. Wir soll­ten ein­fach nicht jetzt schon un­se­re Kar­ten auf den Tisch legen. Wir wis­sen ja nicht, was in den nächs­ten Mo­na­ten ge­sche­hen wird und ob wir über­haupt ein Ver­hand­lungs­re­sul­tat haben wer­den.

Der Bun­des­rat will die flan­kie­ren­den Mass­nah­men aus­drück­lich aus dem Ver­hält­nis zur EU aus­neh­men, damit sie nicht vor dem EU-Ge­richts­hof an­ge­foch­ten wer­den kön­nen. Das ist ein Zu­ge­ständ­nis ge­gen­über links. Fin­den Sie das gut?

Ja, das war da­mals eine in­nen­po­li­tisch not­wen­di­ge Kon­zes­si­on, hin­ter der wir auch heute noch ste­hen.

Müss­te man, um ein mehr­heits­fä­hi­ges Ab­kom­men zu be­kom­men, nicht auch ein Zu­ge­ständ­nis ge­gen­über rechts an­stre­ben? CVP-Prä­si­dent Ger­hard Pfis­ter hat ge­for­dert, dass es die EU aus Re­spekt vor der po­li­ti­schen Kul­tur der Schweiz ak­zep­tie­ren müss­te, wenn die Schweiz bei der Über­nah­me von EU-Recht in einem Re­fe­ren­dum Nein sagt.

Ich weiss nicht, was der Bun­des­rat alles dis­ku­tiert. Die Schweiz bleibt aber auf­grund der Re­fe­ren­dums­mög­lich­keit bei neuen Ab­kom­men so­wie­so ein sou­ve­rä­ner Staat, aber ein neues Ele­ment müss­ten wir im Prin­zip an­schau­en.

Wir müs­sen alles un­ter­neh­men, sonst gibt es Sank­tio­nen, eben Pie­sa­cke­rei.

Aber heute kön­nen wir uns nicht da­ge­gen weh­ren. Mit einem sol­chen Ab­kom­men, kön­nen wir von einem Schieds­ge­richt die An­ge­mes­sen­heit über­prü­fen las­sen. Das Schieds­ge­richt wäre also ganz klar ein Mehr­wert.

 

Beim vor­lie­gen­den Text han­delt es sich um eine ge­kürz­te Ver­si­on. Das aus­führ­li­che In­ter­view er­schien am 3. April 2018 in der Bas­ler Zei­tung. Das Ge­spräch ge­führt hat Do­mi­nik Feusi, Lei­ter Bun­des­haus­re­dak­ti­on.