Die Dis­kus­si­on um Kern­kraft mu­tiert zur Glau­bens­fra­ge

Das Wich­tigs­te in Kürze:

  • In der Kern­kraft Dis­kus­si­on gehen die Wogen hoch – ge­fragt wäre aber ein nüch­ter­ner Blick.
  • Welt­weit sind über 150 Kern­kraft­wer­ke in Bau oder Pla­nung, und viele Län­der sehen sie als Teil ihrer zu­künf­ti­gen En­er­gie­ver­sor­gung.
  • Die Auf­he­bung des Kern­kraft­ver­bots wäre ein wich­ti­ges Si­gnal, dass Kern­kraft eine kli­ma­freund­li­che Op­ti­on auf dem Weg zu Netto Null bleibt.

Die Dis­kus­si­on um die Kern­kraft ist immer mehr zu einer Glau­bens­fra­ge mu­tiert. Nur schon bei ihrer Er­wäh­nung gehen die Wogen in der Po­li­tik hoch. Auch die Be­völ­ke­rung ist ge­spal­ten: Eine knap­pe Mehr­heit von 53% be­für­wor­tet nach jüngs­ten Zah­len die Kern­ener­gie. Umso wich­ti­ger ist ein nüch­ter­ner Blick.

Vor die­sem Hin­ter­grund wirft der Gast­kom­men­tar der KKW-feind­li­chen En­er­gie­stif­tung zur Auf­he­bung des Kern­kraft­ver­bots Fra­gen auf. Man kann zur Kern­kraft ste­hen, wie man will. Aber wir müs­sen bei den Fak­ten blei­ben.

Ers­tens be­haup­tet die En­er­gie­stif­tung (SES), dass all­fäl­li­ge neue KKW erst in «fer­ner Zu­kunft» En­er­gie lie­fern wür­den und darum keine valable Op­ti­on seien. Lange Ver­fah­ren und Bau­zei­ten sind je­doch auch bei den win­ter­wirk­sa­men Er­neu­er­ba­ren an der Ta­ges­ord­nung. In der Schweiz be­nö­tigt die Rea­li­sie­rung eines neuen Wind­parks oder eine Er­hö­hung der Grim­sels­tau­mau­er gut und gerne 20 Jahre – also genau so lang, wie die SES für neue Kern­kraft­wer­ke ver­an­schlagt. In­ter­es­san­ter­wei­se – und zu­recht – wird die Sinn­haf­tig­keit er­neu­er­ba­rer Pro­jek­te trotz der lan­gen Dauer nie grund­sätz­lich in Frage ge­stellt.

Ei­gent­lich ist jetzt der idea­le Zeit­punkt, eine of­fe­ne Dis­kus­si­on um die Kern­kraft zu füh­ren. Auch mit allen mög­li­chen Lauf­zeit­ver­län­ge­run­gen wer­den die be­ste­hen­den Kern­kraft­wer­ke spä­tes­tens in 20-30 Jah­ren vom Netz gehen. Und mit ihnen ein tra­gen­der Pfei­ler un­se­rer Ver­sor­gungs­si­cher­heit im Win­ter. Soll­te man einst zum Schluss kom­men, dass es einen Er­satz der Kern­kraft­wer­ke be­nö­tigt, kämen sie nicht zu spät, son­dern ge­ra­de recht­zei­tig.

Zwei­tens führt die SES ne­ga­ti­ve Er­fah­run­gen aus dem Aus­land an. Das ist bes­ten­falls ein­sei­tig. Fakt ist: Welt­weit sind über 150 Kern­kraft­wer­ke in Bau oder Pla­nung. Ent­wi­ckel­te Län­der von Ost bis West sehen sie als Teil ihrer künf­ti­gen En­er­gie­ver­sor­gung. Al­lein in China ent­ste­hen – neben un­zäh­li­gen er­neu­er­ba­ren Pro­jek­ten – ak­tu­ell 29 neue Re­ak­to­ren. Ban­ken in den USA haben sich kürz­lich zur Fi­nan­zie­rung einer Ver­drei­fa­chung der Kern­kraft­ka­pa­zi­tät ver­pflich­tet. Die EU hat die Kern­kraft als “es­sen­zi­ell für Netto Null” an­er­kannt und auch der Welt­kli­ma­rat er­ach­tet sie als not­wen­dig, um am­bi­tio­nier­te Kli­ma­zie­le zu er­rei­chen. Wenn man aus der in­ter­na­tio­na­len Ent­wick­lung etwas für die Schweiz ab­lei­ten kann, dann dass die Schweiz mit ihrem Ver­bot aus­sen vor steht.

End­gül­tig falsch ist schliess­lich die Be­haup­tung, dass Kern­kraft die Er­neu­er­ba­ren un­ter­gra­ben. Letz­tes Jahr haben wir un­se­re Aus­bau­zie­le um satte 70% ver­fehlt. In die­ser schwie­ri­gen Si­tua­ti­on ist ein “ent­we­der-oder” gar keine Op­ti­on. Die Er­neu­er­ba­ren sind kom­pe­ti­tiv genug, dass wir sie nicht mit Ver­bo­ten schüt­zen müs­sen. Die An­nah­me, dass es bes­ser läuft, wenn man alle Al­ter­na­ti­ven vom Tisch nimmt und un­se­rem Land die en­er­gie­po­li­ti­sche Pis­to­le an die Brust legt, ist zy­nisch.

Die Auf­he­bung des Kern­kraft­ver­bots wäre vor allem ein Si­gnal. Ein Si­gnal an die Strom­bran­che, an die Po­li­tik, an For­schung und Ent­wick­lung und auch an In­ves­to­ren: Ver­gesst diese Op­ti­on auf dem Weg zu Netto Null nicht. Ob die Schweiz denn auch tat­säch­lich auf Kern­kraft set­zen soll, ist eine of­fe­ne Frage. Doch dass man sie nicht ka­te­go­risch ver­bie­tet, soll­te ei­gent­lich keine Frage sein. Denn eine of­fe­ne Schweiz soll­te offen für alle kli­ma­freund­li­chen Tech­no­lo­gi­en sein.

 

Die Erst­pu­bli­ka­ti­on die­ses Bei­trags er­folg­te am 19. März 2025 im Tages-An­zei­ger.