Mann und Frau werden interviewt

Ge­spräch mit Heinz Kar­rer und Mo­ni­ka Rühl

Heinz Kar­rer und Mo­ni­ka Rühl dis­ku­tie­ren mit Ros­ma­rie Mi­chel und Chris­ti­an Hir­sig über die Chan­cen und Her­aus­for­de­run­gen der Di­gi­ta­li­sie­rung, mo­de­riert von Ste­phan Sig­rist, Grün­der und Lei­ter des Think Tank W.I.R.E. 

Wir sind hier im FabLab, der Werk­statt, die di­gi­ta­le Träu­me wahr wer­den lässt. In­wie­fern hat die Di­gi­ta­li­sie­rung Ihr Leben ver­bes­sert?

Rühl: Mit Ban­ken oder Kran­ken­kas­sen kom­mu­ni­zie­re ich seit meh­re­ren Jah­ren aus­schliess­lich übers In­ter­net. Eben­so, wenn ich eine Reise buche. Als neues Ele­ment ist eine App hin­zu­ge­kom­men, mit der ich zu jeder Zeit und von über­all her auf mein Konto zu­grei­fen kann. Diese Trans­pa­renz rund um die Uhr hat mir per­sön­lich das Leben ver­ein­facht. 

Mi­chel: Für mich ist das In­ter­net in ers­ter Linie ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel, das hilft, Dis­tan­zen zu über­win­den. Ich war im Be­reich Mi­cro­credits tätig, un­se­re Kun­din­nen in den Ent­wick­lungs­län­dern hat­ten kei­ner­lei Ver­bin­dung und Zu­gang zur Welt. Das In­ter­net war für uns des­halb eine ab­so­lu­te Re­vo­lu­ti­on. Aber es er­setz­te per­sön­li­che Ge­sprä­che vor Ort nicht. Denn diese sind trotz Zeit­auf­wand und Reise noch immer er­trags­rei­cher und frucht­ba­rer, da man den Men­schen und Ge­sprächs­part­ner von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ken­nen­lernt. Zudem er­folgt die reine In­for­ma­ti­ons­ver­mitt­lung am bes­ten elek­tro­nisch, ins­be­son­de­re in Län­dern, in denen die phy­si­sche In­fra­struk­tur in­sta­bil ist. Die Di­gi­ta­li­sie­rung er­leich­tert zudem vor allem uns als äl­te­rer Ge­ne­ra­ti­on, Kon­tak­te zu pfle­gen, ohne sich be­we­gen zu müs­sen. Des­halb ist es so wich­tig, dass wir uns mit die­sem Trend be­fas­sen. Ein Di­gi­ta­li­sie­rungs-Guru steht mir in tech­ni­schen Be­lan­gen zur Seite. Hilf­reich ist eine ge­wis­se Neu­gier und Freu­de am Um­gang mit der Tech­nik.

Mein per­sön­li­cher Di­gi­ta­li­sie­rungs-Guru hilft mir, die Tech­nik bes­ser zu ver­ste­hen.

Neu­gier­de wird auch der Ge­ne­ra­ti­on der «di­gi­tal na­ti­ves» zu­ge­schrie­ben. Chris­ti­an Hir­sig, worin sehen Sie als Ver­tre­ter der jün­ge­ren Ge­ne­ra­ti­on die Vor­tei­le re­spek­ti­ve Gren­zen der Di­gi­ta­li­sie­rung?

Hir­sig: Die gute Nach­richt ist, ich habe auch einen Guru, denn auch in mei­nem Alter gibt es immer je­mand, der sich noch ein biss­chen bes­ser aus­kennt. So ent­steht dank der Di­gi­ta­li­sie­rung ein Netz­werk an Per­so­nen, die sich ge­gen­sei­tig hel­fen und das auf Ver­trau­en ba­siert. Das ist denn auch der Grund, wes­halb ich die Men­schen per­sön­lich sehen will: Nur so kann ich Ver­trau­en auf­bau­en. Das kann keine Skype-Ver­bin­dung er­set­zen. 

Wie sieht das bei Ihnen aus, Herr Kar­rer? Wo sehen Sie im pri­va­ten Leben die Chan­cen oder auch Ri­si­ken der Di­gi­ta­li­sie­rung?

Kar­rer: Es ist schon so, das Smart­pho­ne ist zum stän­di­gen Be­glei­ter ge­wor­den, sei es pri­vat oder be­ruf­lich. Die Mög­lich­kei­ten, die das Smart­pho­ne bie­tet, nutze ich in­ten­siv. Ich er­in­ne­re mich bei­spiels­wei­se an eine Be­ge­ben­heit, als wir 2016 beim Berg­stei­gen eine sel­te­ne Route be­gin­gen. Es gab nur einen Ein­stieg an einem be­stim­men Ort, der schwer zu fin­den war. Wir haben alles vorab von Hand auf der Karte ein­ge­tra­gen, aber heute gibt es eine App, die sogar die sel­tens­ten Rou­ten an­zeigt. So hat uns das GPS an der dun­kels­ten Wand um 2 Uhr nachts ge­hol­fen, den rich­ti­gen Ein­stieg zu fin­den. Das zeigt, dass es be­lie­big viele An­wen­dun­gen, auch im Pri­va­ten, gibt, die eine Hilfe mit sich brin­gen. Mit an­de­ren Wor­ten: Die Di­gi­ta­li­sie­rung bringt in vie­lem eine gros­se Er­leich­te­rung, aber man muss sich auch be­wusst ab­gren­zen kön­nen, so­wohl pri­vat wie auch be­ruf­lich.

 

 

 

Da möch­te ich gleich an­knüp­fen: Man spricht im Kon­text der Di­gi­ta­li­sie­rung häu­fig von Kon­troll­ver­lust, Ab­hän­gig­keit und stän­di­ger Er­reich­bar­keit. Worin sehen Sie kri­ti­sche As­pek­te? 

Mi­chel: Ich bin der Mei­nung, dass man in der Nut­zung von di­gi­ta­len Ge­rä­ten sehr dif­fe­ren­ziert ent­schei­den muss. Bei mir be­steht die Regel, dass Smart­pho­nes in der Gar­de­ro­be blei­ben. Ich möch­te, dass das Ge­spräch im Vor­der­grund steht und nicht stän­dig un­ter­bro­chen wird. 

Kar­rer: Ich sehe eine ähn­li­che Ent­wick­lung, wenn in Sit­zun­gen E-Mails ge­schrie­ben wer­den an­statt zu­zu­hö­ren und sich aktiv in die Dis­kus­si­on ein­zu­brin­gen. Die Frage ist, wie man damit um­geht. Viel­fach hel­fen Spiel­re­geln für den Um­gang mit di­gi­ta­len Ge­rä­ten, um dem Kon­flikt­po­ten­zi­al zu be­geg­nen.

Rühl: Es darf aber auf kei­nen Fall zu neuen Re­gu­lie­run­gen füh­ren. So gibt es Bei­spie­le von Un­ter­neh­men, die ihren Mit­ar­bei­ten­den ver­bie­ten, am Wo­chen­en­de oder nach 18 Uhr aufs E-Mail zu­zu­grei­fen. Das er­ach­te ich als fal­schen An­satz. Wir alle müs­sen ei­gen­ver­ant­wort­lich ler­nen, mit den neuen Ge­rä­ten und Tech­no­lo­gi­en um­zu­ge­hen. Da braucht es auch guten Men­schen­ver­stand. Ich er­war­te zum Bei­spiel nicht, dass meine Mit­ar­bei­ten­den mir am Wo­chen­en­de auf meine E-Mails ant­wor­ten, ich will aber die Frei­heit haben, dann E-Mails zu schrei­ben, wenn ich Zeit dazu habe. Es braucht klare Spiel­re­geln, aber keine Re­gu­lie­run­gen.

Die Di­gi­ta­li­sie­rung bringt in vie­lem eine gros­se Er­leich­te­rung, aber man muss sich auch be­wusst ab­gren­zen kön­nen.

Die stän­di­ge Er­reich­bar­keit ist auch bei Start-ups ein gros­ses Thema. Wie gehen Sie mit die­sen Her­aus­for­de­run­gen um, Herr Hir­sig?

Hir­sig: Die meis­ten Start-ups müs­sen mit gros­sen Ri­si­ken und ne­ga­ti­vem Druck um­ge­hen, was es noch wich­ti­ger macht, klare Spiel­re­geln in Bezug auf Er­reich­bar­keit ein­zu­füh­ren. So haben wir in un­se­rem Start-up zum Bei­spiel ver­sucht, am Wo­chen­en­de be­wusst keine E-Mails zu ver­sen­den, um keine im­pli­zi­te Er­war­tungs­hal­tung ge­gen­über den Mit­ar­bei­ten­den aus­zu­lö­sen und sie wäh­rend ihrer Fa­mi­li­en- oder Frei­zeit zu stö­ren. 

Das ist ein vor­bild­li­cher An­satz, zumal die dau­ern­de Er­reich­bar­keit nicht zwangs­läu­fig zu einer hö­he­ren Pro­duk­ti­vi­tät führt. Wäre es nicht not­wen­dig, im Um­gang mit die­ser The­ma­tik mehr Auf­klä­rung zu be­trei­ben?

Rühl: Ein Pro­blem im Kon­text die­ser Dis­kus­si­on be­steht darin, dass unser Ar­beits­ge­setz die heu­ti­gen Be­dürf­nis­se nicht ab­bil­det. Dank der di­gi­ta­len Ge­rä­te kön­nen wir heute orts- und zei­tun­ge­bun­den ar­bei­ten, sei es im Zug oder wenn die Kin­der im Bett sind. Das ist eine gros­se Chan­ce, bei­spiels­wei­se bei der bes­se­ren Ver­ein­bar­keit von Beruf und Fa­mi­lie. Ich denke nicht, dass fle­xi­ble­re Ar­beits­mo­del­le mit einer ge­rin­ge­ren Pro­duk­ti­vi­tät ein­her­ge­hen – im Ge­gen­teil: Ich kann viel eher auf meine Be­dürf­nis­se ein­ge­hen. Und daran an­knüp­fend stellt sich die Frage, wie wir mit den ge­setz­li­chen Be­din­gun­gen um­ge­hen.

Knüp­fen wir doch an die­sem Thema an. Die Au­to­ma­ti­sie­rung kommt, das ist Fakt. Wie stark, dar­über ist man sich noch nicht im Kla­ren. Wie schät­zen Sie diese Ent­wick­lung ein, als Chan­ce für den Stand­ort und das Un­ter­neh­men oder als Ri­si­ko in Bezug auf Stel­len­ab­bau?

Kar­rer: Das Ein­zi­ge, was si­cher nicht ein­tref­fen wird, sind die Pro­gno­sen, wie sie heute ge­äus­sert wer­den. Wir hat­ten auch in der Ver­gan­gen­heit eine per­ma­nen­te Suche nach Pro­zess­op­ti­mie­run­gen, die Di­gi­ta­li­sie­rung be­schleu­nigt die­sen Pro­zess je­doch mas­siv. Dass dies auch im Ar­beits­markt Kon­se­quen­zen haben wird, ist un­be­strit­ten. Ins­ge­samt sehen wir die Di­gi­ta­li­sie­rung aber als Chan­ce, da sie uns neue Mög­lich­kei­ten bie­tet. Bei­spiels­wei­se für klei­ne­re Un­ter­neh­men, die dank der neuen Tech­no­lo­gi­en in­ter­na­tio­nal oder in­ter­na­tio­na­ler tätig sein kön­nen. 

Mi­chel: Wich­tig scheint mir, dass der Mensch die­sen Ent­wick­lungs­pro­zess des Um­den­kens auch mit­macht und sich an die neue Ver­ein­bar­keit, Ent­schei­dungs­freu­dig­keit und das Un­ter­neh­mer­tum an­passt. 

Kar­rer: Die Ent­wick­lung bringt si­cher­lich auch mit sich, dass wir uns an die neuen An­for­de­run­gen an­pas­sen müs­sen. So reicht es heute nicht mehr, nur noch eine Aus­bil­dung zu ab­sol­vie­ren, wie es lange Zeit der Fall war. Dies be­deu­tet auf der einen Seite, dass die Un­ter­neh­mens­lei­tun­gen ent­spre­chend noch mehr Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Auf der an­de­ren Seite ver­langt es auch eine gros­se Ei­gen­ver­ant­wor­tung der Mit­ar­bei­ten­den. 

Rühl: Frü­her blieb man oft das ganze Be­rufs­le­ben im glei­chen Be­trieb. Das hat sich kom­plett ver­än­dert. Heute zeich­net sich ein Le­bens­lauf durch Er­fah­run­gen bei un­ter­schied­li­chen Ar­beit­ge­bern aus. Wenn wir zu die­ser Ent­wick­lung die Di­gi­ta­li­sie­rung hin­zu­neh­men, be­deu­tet dies, dass wir noch ver­än­de­rungs­be­rei­ter sein müs­sen. Der Mensch ist aber an­pas­sungs­fä­hig, des­halb mache ich mir nicht sehr gros­se Sor­gen. Wir sind per se neu­gie­ri­ge Wesen, die Di­gi­ta­li­sie­rung sehe ich als Chan­ce, Neues zu ler­nen.  

Hir­sig: Das Ent­schei­den­de ist, dass wir die neuen An­for­de­run­gen nicht nach alten Wer­ten be­ur­tei­len. Wir kön­nen uns dem Pro­zess der Di­gi­ta­li­sie­rung nicht ent­zie­hen und sind Teil davon. Des­halb müs­sen wir uns sehr be­wusst damit aus­ein­an­der­set­zen.

Die Rolle des Staa­tes in Bezug auf die Di­gi­ta­li­sie­rung ist die glei­che wie ge­gen­über der rea­len Welt: Ei­gen­ver­ant­wor­tung und Rah­men­be­din­gun­gen för­dern, ohne zu stark zu re­gu­lie­ren.

Frau Mi­chel, wie geht die äl­te­re Ge­ne­ra­ti­on mit die­ser Dy­na­mik im Kon­text der Di­gi­ta­li­sie­rung um?

Mi­chel: Mein Um­feld ist sehr in­no­va­ti­ons­freu­dig und schon in mei­ner Ju­gend war tech­ni­sche Ent­wick­lung ein Thema. Das hat uns in Bezug auf Fle­xi­bi­li­tät stark ge­prägt. So stel­le ich mit Freu­de fest, dass viele Äl­te­re in­ter­es­siert und offen für Neues sind. 

In­ter­es­se, Neu­gier­de und Of­fen­heit für Neues ist im Zeit­al­ter der Di­gi­ta­li­sie­rung von uns also ge­fragt. Wie sieht es denn mit der Rolle des Staa­tes aus?

Rühl: Die Rolle des Staa­tes in Bezug auf die Di­gi­ta­li­sie­rung ist die glei­che wie ge­gen­über der rea­len Welt: Ei­gen­ver­ant­wor­tung und Rah­men­be­din­gun­gen för­dern, ohne eine zu star­ke Re­gu­lie­rung. Die Di­gi­ta­li­sie­rung ist ja nichts Neues, wir leben sie alle seit meh­re­ren Jah­ren, trotz­dem herrscht eine ge­wis­se Un­si­cher­heit dar­über, wie es wei­ter­geht. Aus die­ser Angst ent­steht in der Po­li­tik häu­fig die Ten­denz, zu viel zu re­gu­lie­ren. Wir müs­sen statt­des­sen einen ver­nünf­ti­gen Um­gang mit die­ser Un­si­cher­heit fin­den. Der Staat soll Leit­plan­ken set­zen, aber nicht über­mäs­sig.

Sie spre­chen einen wich­ti­gen Punkt an, die Un­si­cher­heit? Und wie ge­lingt es uns, wie­der mit Freu­de in die un­be­kann­te Zu­kunft zu gehen? Wel­che Ver­ant­wor­tung müs­sen Un­ter­neh­men hier über­neh­men? 

Kar­rer: Wenn ir­gend­wo ein Pro­blem ge­or­tet wird, be­steht die Ten­denz, dies so­fort po­li­tisch zu re­geln. Neh­men wir den Um­gang mit Daten als Bei­spiel. Das ist eine sehr per­sön­li­che An­ge­le­gen­heit, die eine hohe Ei­gen­ver­ant­wor­tung er­for­dert. Es macht kei­nen Sinn, hier alles re­gu­lie­ren zu wol­len und damit ohne Not die per­sön­li­che und un­ter­neh­me­ri­sche Frei­heit ein­zu­schrän­ken. Viel­mehr soll die Sen­si­bi­li­sie­rung ins­be­son­de­re in Er­zie­hung und Bil­dung mehr Ge­wicht er­hal­ten. Damit jeder selbst­be­stimmt ent­schei­den kann, wie er mit sei­nen Daten um­ge­hen will. Viel­leicht wer­den wir in Zu­kunft nicht nur einen Organ-, son­dern auch einen Da­ten­spen­der­aus­weis haben. Somit könn­te je­mand seine Ge­sund­heits­da­ten bei­spiels­wei­se der For­schung «spen­den». 

Hir­sig: Das Haupt­ar­gu­ment gegen Re­gu­lie­rung be­steht für mich darin, dass die Ent­wick­lun­gen so schnell sind, dass sie gar nicht re­gu­liert wer­den kön­nen. Wenn ein Ge­setz der EU ra­ti­fi­ziert wird, taucht be­reits ein an­de­res Pro­blem auf. Das Mo­dell des Re­gu­lie­rens ist ein Mo­dell der Ver­gan­gen­heit. Wir kön­nen nur das re­gu­lie­ren, was be­ste­hen bleibt.

Das bringt uns zur nächs­ten, gros­sen Frage: Wie po­si­tio­niert sich der Stand­ort Schweiz im Be­reich Di­gi­ta­li­sie­rung und wie gut ste­hen wir im Ver­gleich zu an­de­ren Län­dern da?

Kar­rer: Die Schweiz hat un­be­strit­ten ein äus­serst in­no­va­ti­ves und wett­be­werbs­fä­hi­ges Klima für Un­ter­neh­men und wir zeich­nen uns durch eine ver­gleichs­wei­se ge­rin­ge Ar­beits­lo­sig­keit aus. Wir soll­ten alles Er­denk­li­che tun, damit wir auch mor­gen und über­mor­gen so gut da­ste­hen. In Bezug auf die Di­gi­ta­li­sie­rung sehe ich in der Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen Bür­ger und Staat, in den Be­rei­chen E-Go­ver­ne­ment oder E-Health noch Auf­hol­po­ten­zi­al. Da gibt es Staa­ten, die viel wei­ter sind als wir. Zudem haben wir im in­ter­na­tio­na­len Ver­gleich mitt­ler­wei­le eine viel zu hohe Re­gu­lie­rungs­dich­te. Im «doing busi­ness»-Ran­king liegt die Schweiz nur noch auf Rang 31, was sich in einem di­gi­ta­li­sier­ten Um­feld nach­tei­lig aus­wirkt.

Rühl: Das Si­li­con Val­ley wird ja als Mass aller Dinge be­zeich­net. Ich be­haup­te, wir haben auch un­se­re Si­li­con Val­leys in der Schweiz, wenn auch klei­ner und sek­t­o­ri­el­ler: Mit einem In­no­va­ti­ons­park im Auf­bau, zwei top qua­li­fi­zier­ten ETHs mit zahl­rei­chen Start-ups und Spinn-offs und zahl­rei­chen Fach­hoch­schu­len mit in­ten­si­vem Kon­takt zur Wirt­schaft. Zudem haben sich in vie­len Re­gio­nen star­ke Bran­chen-Clus­ter ge­bil­det – wie bei­spiels­wei­se in der Me­di­zi­nal­tech­nik, in der Phar­ma­for­schung oder der Fi­nanz­bran­che. Da be­ste­hen be­reits viele di­gi­ta­le, in­no­va­ti­ve und krea­ti­ve Kräf­te. Wir müs­sen die­sen Ent­wick­lun­gen Sorge tra­gen und sie aktiv för­dern.

Das stimmt op­ti­mis­tisch. Trotz­dem: Gibt es Ele­men­te, mit denen wir uns noch stär­ker po­si­tio­nie­ren müs­sen? Was zeich­net die Schweiz im In­no­va­ti­ons­wett­be­werb aus? 

Kar­rer: Wenn Un­ter­neh­men den Ent­scheid fäl­len, in die Schweiz zu kom­men, wer­den meist die Rechts­sta­bi­li­tät und po­li­ti­sche Sta­bi­li­tät als Fak­to­ren ge­nannt. Das ist ein hohes Gut, ins­be­son­de­re im di­gi­ta­len Um­feld.

Rühl: Meine Vi­si­on des Wirt­schafts­stand­orts Schweiz ist nicht jene eines Hubs, das ist mir zu sim­pel. Un­se­re gros­se Stär­ke ist die ge­leb­te di­ver­si­fi­zier­te Wirt­schaft, die wir in ihrer gan­zen Brei­te för­dern soll­ten.

Hir­sig: Mir ge­fällt das Wort Lab bes­ser. Wir sind sehr gut darin, neue Tech­no­lo­gi­en zu ent­wi­ckeln, Pa­ten­te an an­de­re Fir­men zu ver­kau­fen oder li­zen­zie­ren zu las­sen. Da ste­hen wir auch mit den bei­den ETHs im in­ter­na­tio­na­len Ver­gleich sehr gut da. Wir haben zwar einen sehr klei­nen Heim­markt, des­halb sind wir in Bran­chen gut, in denen man nicht zu lokal denkt, son­dern von Be­ginn an eine In­ter­na­tio­na­li­sie­rung an­strebt.

Wir soll­ten be­reits in der Pri­mar­schu­le pro­gram­mie­ren ler­nen. Es hilft uns, die Tech­no­lo­gie zu ver­ste­hen und die Angst vor Ro­bo­tern zu neh­men.

Wel­che Skills und Kom­pe­ten­zen müs­sen wir uns denn neben der in­ter­na­tio­na­len Aus­rich­tung an­eig­nen, um mit der Di­gi­ta­li­sie­rung mit­hal­ten zu kön­nen?

Mi­chel: Ich spüre ge­ra­de im Bil­dungs­we­sen und an den Hoch­schu­len eine star­ke Ver­än­de­rung in der Be­reit­schaft, neue Ge­bie­te zu ent­wi­ckeln und die Stu­die­ren­den darin aus­zu­bil­den. Das hat ei­ner­seits mit Men­ta­li­tät zu tun, aber auch mit der mul­ti­kul­tu­rel­len Her­kunft der Stu­die­ren­den sowie dem gros­sen An­teil an Stu­den­tin­nen. Diese Ent­wick­lun­gen sind be­grüs­sens­wert. 

Rühl: Ich denke nicht, dass wir die Di­gi­ta­li­sie­rung nur da­durch meis­tern, mehr In­ge­nieu­re aus­zu­bil­den. Die Zu­kunft liegt viel eher in der in­ter­dis­zi­pli­nä­ren Zu­sam­men­ar­beit. Wir sind noch zu stark im Si­lo­den­ken ver­haf­tet. In­no­va­ti­on und Krea­ti­vi­tät ent­ste­hen durch Viel­falt.

Hir­sig: Eine wich­ti­ge Kom­pe­tenz, die mei­ner Mei­nung nach schon in der Pri­mar­schu­le er­lernt wer­den muss, ist das Pro­gram­mie­ren. Es hilft uns zu ver­ste­hen, wie die Di­gi­ta­li­sie­rung funk­tio­niert. Erst wenn wir die Me­cha­nis­men da­hin­ter ver­ste­hen und die Ent­wick­lun­gen ein­ord­nen kön­nen, wird auch die Angst vor Ro­bo­tern ver­schwin­den. 

Kar­rer: Das un­ter­stüt­ze ich sehr. Es ist un­be­strit­ten, dass wir bei den An­for­de­run­gen, die die Di­gi­ta­li­sie­rung mit sich bringt, Nach­hol­be­darf haben. Die In­for­ma­tik ist im Lehr­plan erst seit Kur­zem ver­wur­zelt. Dies zeigt, dass un­se­re po­li­ti­schen Pro­zes­se dies­be­züg­lich zu lang­at­mig sind. Da­ne­ben soll­ten Krea­ti­vi­tät und so­zia­le wie auch emo­tio­na­le Kom­pe­ten­zen ge­för­dert wer­den. Das sind Fä­hig­kei­ten, mit denen sich der Mensch ge­gen­über Ma­schi­nen dif­fe­ren­zie­ren kann. Dies soll­te zwin­gend stär­ker in die Bil­dung ein­flies­sen.

Stich­wort Krea­ti­vi­tät: Zum Ab­schluss möch­te ich von Ihnen wis­sen, wie Ihre di­gi­ta­le Wunsch-Ma­schi­ne der Zu­kunft aus­sieht!

Rühl: Ich wün­sche mir einen di­gi­ta­len Haus­häl­ter, der auf­räumt, die Woh­nung putzt, ein­kauft und kocht.

Kar­rer: Ich weiss zwar nicht, ob ich per­sön­lich einen Ro­bo­ter will, der mich im Alter pflegt. Nichts­des­to­trotz bin ich der Mei­nung, dass die Di­gi­ta­li­sie­rung im Be­reich der Be­treu­ung und der Pfle­ge gros­ses Po­ten­zi­al hat. 

Mi­chel: Ich muss ge­ste­hen, ich liebe Ro­bo­ter! Ich be­sit­ze einen di­gi­ta­len Staub­sau­ger, das ist eine gros­se Er­leich­te­rung. Auf der an­de­ren Seite habe ich noch immer ein Auto mit Schal­tung. Ich bin eine ent­schei­dungs­freu­di­ge Per­son und will am Berg selbst be­stim­men, mit wel­chem Gang ich hoch­fah­ren will. Ein selbst­fah­ren­des Auto käme für mich nicht in­fra­ge. Es be­ru­higt mich zu wis­sen, dass wir noch immer in­tel­li­gen­ter sind als Ro­bo­ter. Es braucht eine Pro­gram­mie­rung, aber auch eine Ent­schei­dung dar­über, wie man pro­gram­miert. 

Hir­sig: Ich wün­sche mir einen Ro­bo­ter, der bea­men kann. Mo­bi­li­tät ist in mei­ner Ge­ne­ra­ti­on ein gros­ses Be­dürf­nis, was je­doch nicht sehr öko­lo­gisch ist. Ein kli­ma­neu­tra­ler Beam-Ro­bo­ter wäre eine nach­hal­ti­ge Ab­hil­fe.

 

* Ros­ma­rie Mi­chel wurde 1931 in Zü­rich ge­bo­ren. Sie führ­te die Con­fi­se­rie Schur­ter ein hal­bes Jahr­hun­dert lang und war Vor­rei­te­rin in Frau­en­fra­gen. Da­ne­ben war sie Mit­glied ver­schie­de­ner Ver­wal­tungs­rä­te von Gross­fir­men wie der Va­lo­ra Hol­ding und der Credit Su­is­se. Das Grün­dungs­mit­glied von Ave­nir Su­is­se prä­si­dier­te auch die Gold­bach Media AG und viele Jahre lang die ZFV-Un­ter­neh­mun­gen. Als Mit­glied von Women's World Ban­king hat sich Ros­ma­rie Mi­chel be­reits in den 1970er-Jah­ren mit Ent­wick­lungs­hil­fe und Kleinst­kre­di­ten be­fasst. 

** Chris­ti­an Hir­sig wurde vom Wirt­schafts­ma­ga­zin Bi­lanz 2012 zu den «40 unter 40» ge­wählt. In den letz­ten Jah­ren be­glei­te­te er mit sei­nem Start-up Atizo un­ter­schied­li­che Fir­men auf dem Weg zu mehr In­no­va­ti­on. In Bern und St. Gal­len stu­dier­te er Be­triebs­wirt­schaft und war in den letz­ten Jah­ren als Do­zent an Schwei­zer Uni­ver­si­tä­ten und Fach­hoch­schu­len tätig. Hir­sig hat 2016 die Platt­form Swis­spre­neur ge­grün­det. Damit soll der Start-up-Geist ge­för­dert und jun­gen Un­ter­neh­men bei der Um­set­zung ihrer Ideen ge­hol­fen wer­den. 

*** Dr. Ste­phan Sig­rist ist Grün­der und Lei­ter des Think Tank W.I.R.E. Er ana­ly­siert seit vie­len Jah­ren in­ter­dis­zi­pli­när Ent­wick­lun­gen in Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und Ge­sell­schaft und be­schäf­tigt sich schwer­ge­wich­tig mit den Fol­gen der Di­gi­ta­li­sie­rung in den Life Sci­en­ces, Fi­nan­ci­al Ser­vices, Me­di­en, In­fra­struk­tur und Mo­bi­li­tät. Er ist Her­aus­ge­ber der Buch­rei­he ABS­TRAKT und Autor zahl­rei­cher Pu­bli­ka­tio­nen sowie Keyno­te-Re­fe­rent an in­ter­na­tio­na­len Ta­gun­gen. Mit W.I.R.E. berät er Ent­schei­dungs­trä­ger bei der Ent­wick­lung von lang­fris­ti­gen Stra­te­gi­en, be­glei­tet In­no­va­ti­ons­pro­jek­te und un­ter­stützt Un­ter­neh­men bei der Neu­ge­stal­tung von zu­kunfts­ori­en­tier­ten Räu­men für Mit­ar­bei­ten­de und den Aus­tausch mit Kun­den. Nach sei­nem Bio­che­mie-Stu­di­um an der ETH Zü­rich und einer Dis­ser­ta­ti­on am Col­le­gi­um Hel­ve­ti­cum war er in der me­di­zi­ni­schen For­schung von Hoff­mann-La Roche tätig. Da­nach ar­bei­te­te er als Un­ter­neh­mens­be­ra­ter bei Ro­land Ber­ger Stra­te­gy Con­sul­tants und am Gott­lieb Dutt­wei­ler In­sti­tu­te. Er ist im Stif­tungs­rat des Schwei­ze­ri­schen All­er­gie­zen­trums AHA und ab Ja­nu­ar 2018 Mit­glied des In­no­va­ti­ons­rats von In­no­suis­se, der För­der­agen­tur des Bun­des für wis­sen­schafts­ba­sier­te In­no­va­ti­on.