Inländisches Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen
- Introduction Executive summary | Positions of economiesuisse
- Chapter 1 Ausgangslage
- Chapter 2 Schweizer Arbeitsmarkt: Die Fakten
- Chapter 3 Der Arbeitskräftemangel wird eine grosse Herausforderung
- Chapter 4 Die Antwort der Wirtschaft
- Chapter 5 Jetzt ist auch die Politik gefordert
Der Arbeitskräftemangel wird eine grosse Herausforderung
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob die Erfolgsgeschichte auch in Zukunft weitergeschrieben werden kann. Die Schweiz profitierte in den vergangenen Jahrzehnten von einer demografischen Dividende: Die geburtenstarken Jahrgänge waren bisher im erwerbsfähigen Alter. Entsprechend stand den Unternehmen ein grosses Arbeitskräftereservoir zur Verfügung. Diese Entwicklung hat sich 2020 ins Gegenteil gekehrt. Die Babyboomer scheiden altersbedingt nach und nach aus dem Arbeitsmarkt aus, und weil die Geburtenrate seit langem tief ist, kann dieser Wegfall nicht durch nachrückende junge Menschen kompensiert werden. Das wirkt sich negativ auf das inländische Arbeitskräfteangebot aus.
Was bedeutet diese Entwicklung für den Schweizer Arbeitsmarkt? In der Schweiz herrscht bereits heute ein Arbeitskräftemangel. Kurzfristig wird es eher von der konjunkturellen Entwicklung abhängen, wie stark sich der Mangel akzentuiert oder abschwächt. Mittel- bis langfristig wird sich der Arbeitskräftemangel aber strukturell verschärfen, weil Arbeitsangebot und -nachfrage auseinanderklaffen: Das Angebot an inländischen Arbeitskräften wird aufgrund der demografischen Entwicklung weiter sinken. Die Nachfrage hingegen wird trotz höherer Arbeitsproduktivität steigen müssen. Andernfalls wird es nicht möglich sein, den Wohlstand pro Kopf in dem Ausmass zu erhöhen, wie dies der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen ist.
Warum nutzt economiesuisse das BIP pro Kopf als Zielgrösse
Um die zusätzliche Nachfrage zu berechnen, verwendet die Wirtschaft das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf als Zielgrösse. Die Annahme ist, dass das BIP pro Kopf analog der Entwicklung seit 2000 weiter steigen wird. Nun könnte man sich fragen, warum das BIP pro Kopf weiter steigen soll. Schliesslich hat die Schweiz im internationalen Vergleich bereits ein hohes Wohlstandsniveau. Das liegt an der demografischen Entwicklung: Einer sinkenden Zahl von Erwerbstätigen steht eine wachsende Zahl von Nichterwerbstätigen resp. Pensionierten gegenüber. Das bedeutet, dass für ein konstantes BIP pro Kopf der Gesamtbevölkerung die Wirtschaftsleistung der Erwerbstätigen steigen muss. Bei einem konstanten BIP pro Kopf müssten die Erwerbstätigen mehr leisten, ohne dafür entschädigt zu werden, müssten sie doch deutlich mehr zur nichterwerbsfähigen Bevölkerung umverteilen. Nur so könnte der Wohlstand beispielsweise bei den Pensionierten konstant bleiben. Doch das wiederum mindert den Anreiz für die Erwerbstätigen, diese Zusatzleistung zu erbringen. Fazit: Nur ein steigendes BIP pro Kopf setzt für die Erwerbstätigen die richtigen Anreize, ohne dass der Wohlstand der übrigen Bevölkerung sinkt.
Wie viele Arbeitskräfte fehlen?
Die Wirtschaft hat ein Szenario erarbeitet, das die Entwicklung von Arbeitsangebot und -nachfrage auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten 10 Jahren prognostiziert. Die Schätzung des Angebots basiert im Wesentlichen auf dem mittleren Bevölkerungsszenario des Bundesamts für Statistik (BFS). Die Berechnungen zeigen, dass sich das inländische Angebot bis 2035 verglichen mit heute um rund 297’000 Vollzeit-Beschäftigte reduzieren wird. Auf der anderen Seite wären zusätzliche 163'000 Vollzeit-Beschäftigte notwendig, um die Wohlstandentwicklung der letzten Jahre fortzuschreiben – dies unter der Annahme einer linear steigenden Arbeitsproduktivität. Zusammengefasst schätzt die Wirtschaft, dass in der Schweiz in 10 Jahren rund 460'000 Vollzeitbeschäftigte fehlen werden.
Wie füllen wir diese Lücke?
Es gibt zwei grosse Hebel, um dem zu begegnen: Die bessere Nutzung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und die Steigerung der Produktivität. Trotz dieser Anstrengungen im Inland ist aber unbestritten, dass wir auch künftig auf Arbeitsmigration, das heisst auf eine arbeitsmarktbezogene Zuwanderung angewiesen sein werden. Aber eben subsidiär und möglichst sozialverträglich.
Im Bereich der besseren Nutzung inländischer Arbeitskräfte stehen die Frauen respektive Mütter sowie die Bürgerinnen und Bürger über 65 Jahren im Zentrum. Hier sind die ungenutzten Potenziale am grössten – und die Fehlanreize ebenso.
Bei den Müttern geht es in erster Linie um die Möglichkeit von Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeiten sowie um die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diesbezüglich ist die Bereitstellung von erschwinglicher und zugänglicher, externer Kinderbetreuung von hoher Bedeutung. Auch steuerliche Anreize spielen eine Rolle. Wichtige Stichworte sind hier die Individualbesteuerung und die Steuerprogression.
Was die bessere Nutzung der Arbeitskräfte über 65 Jahre betrifft, gibt es viele Stellschrauben, angefangen bei der Wertschätzung ihrer Erfahrung in den Unternehmen, über die Rahmenbedingungen in den Betrieben bis hin zu den staatlichen Rahmenbedingungen. Es muss sich auch finanziell lohnen, über das ordentliche Rentenalter hinaus erwerbstätig zu sein.
Doch auch wenn die Ressourcen der Mütter und der älteren Arbeitnehmenden über 65 Jahren deutlich besser genutzt werden, verbleibt noch immer eine grosse Arbeitskräftelücke. Um diese zu schmälern, gilt es, produktiver und effizienter zu werden. Grosses Potenzial besteht insbesondere im Bereich der Digitalisierung von Verwaltungsprozessen und etwa bei Unternehmensgründungen: Hier sind der Schweiz insbesondere skandinavische Länder, aber auch Singapur und Neuseeland zwei Schritte voraus.
Die Wirtschaft schätzt, dass mit entsprechenden Massnahmen bei den Frauen rund 48'000 und bei den 65- bis 69-Jährigen rund 37'000 Erwerbstätige zusätzlich ausgeschöpft werden können (beide Zahlen widerspiegeln Vollzeitäquivalente). Weitere Potenziale bestehen z.B. bei Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung oder Migrantinnen und Migranten. Auf der anderen Seite kann mit einer überdurchschnittlichen Produktivitätssteigerung der Bedarf um knapp 63'000 Beschäftigte (wiederum in Vollzeitäquivalenten) verkleinert werden.