Neues Biodiversitätsabkommen: Für die Artenvielfalt braucht es praxistaugliche Lösungen
Im Dezember 2022 hat die Weltgemeinschaft das neue Biodiversitätsabkommen verabschiedet. Zentrales Element ist die Unterschutzstellung von 30 Prozent der Land- und Meeresflächen bis 2030, das sogenannte «30by30»-Ziel. Das Abkommen ist ein wichtiger Schritt zur Bewältigung der planetaren Krisen. Die Schweizer Wirtschaft unterstützt das Abkommen, fordert jedoch bei der Umsetzung einen pragmatischen und ganzheitlichen Ansatz, der gleichzeitig die lokalen Besonderheiten der Staaten berücksichtigt.
Die Schweizer Wirtschaft unterstützt einen globalen Zielrahmen und das Ziel, den fortlaufenden Biodiversitätsverlust zu stoppen und, soweit möglich, rückgängig zu machen. Denn Biodiversität bedeutet wertvolles Naturkapital, beispielsweise als Ressource oder Produktionsfaktor. Laut dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen basiert fast die Hälfte der Weltwirtschaft auf Naturprodukten und biologischen Prozessen. Der Zustand der Ökosysteme auf der Welt ist jedoch alarmierend. Allein in der Schweiz sind knapp die Hälfte der Lebensraumtypen und die Hälfte aller einheimischen Arten bedroht oder potenziell gefährdet. Die Welt ist derzeit mit einer dreifachen Krise konfrontiert, der sogenannten «triple planetary crisis». Die drei planetaren Krisen Klima, Luftverschmutzung und Biodiversität bedingen sich dabei gegenseitig und können nur gemeinsam angegangen werden. Angesichts der globalen Herausforderungen ist eine internationale Koordination von zentraler Wichtigkeit.
Das Abkommen besteht aus 23 Zielen sowie verschiedenen Monitoring- und Reporting-Mechanismen. Aus Sicht der Wirtschaft sind insbesondere das «30by30»-Ziel sowie ein multilateraler Mechanismus für den Vorteilsausgleich bei der Nutzung digitaler Sequenzinformationen von Bedeutung. Ausserdem die Ziele der wissenschaftsbasierten Reduktion von Risiken durch Chemikalien sowie biodiversitätsfreundliche landwirtschaftliche Praktiken wie nachhaltige Intensivierung, agrarökologische und andere innovative Ansätze, die zur Resilienz, langfristigen Effizienz und Produktivität der Produktionssysteme und zur Ernährungssicherheit beitragen. Bei all diesen Zielen wird eine wirksame und effiziente Umsetzung der einzelnen Massnahmen entscheidend sein.
Das Abkommen ist ein wichtiger Schritt, aber es gibt erhebliche Herausforderungen
Das neue Abkommen wird zu Recht als Meilenstein gefeiert, jedoch stellen sich verschiedene Herausforderungen und die hochgesteckten Ziele des Abkommens könnten zum Feigenblatt werden. Beim Abkommen zu planetaren Krisen ist eine Tendenz zu beobachten, dass je bedrohlicher die Situation und je kleiner der gemeinsame Nenner der internationalen Gemeinschaft für verbindliche, ambitionierte Massnahmen sind, desto ambitionierter und plakativer das Setzen unverbindlicher Ziele. «30by30» ist gut und klingt gut, aber die Realität ist weit davon entfernt. So sind heute global beispielsweise erst zwischen acht Prozent (Gewässer) und 17 Prozent (Festland) «geschützt», eine Verdoppelung innert weniger als sieben Jahren stellt eine (möglicherweise zu) grosse Herausforderung dar.
Gleichzeitig verpasst das Abkommen realistische, aber dafür verbindliche und koordinierte Massnahmen. Immerhin konnten bei den meisten Zielen Leitindikatoren festgelegt werden, die teilweise noch genauer definiert werden müssen. Der Ausprägung der Indikatoren ist seitens der Wirtschaft Beachtung zu schenken. Die Ambition muss zudem sein, die Biodiversität in jedem Land nach Massgabe ihrer Bedrohung zu stärken und die ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit ganzheitlich zu verbessern. Besonders augenfällig ist die Verbindung zwischen Biodiversität, Klimaschutz und Versorgungssicherheit mit Energie und Nahrung. Eine Koordination ist zum Vermeiden eines internationalen Flickenteppichs unerlässlich. Unter anderem, weil Ziele und Realität auseinanderklaffen, wurde im Abkommen kaum Verbindlichkeit erzielt.
Weiterhin können ungenügend koordinierte Regeln schnell zu administrativem Mehraufwand führen. Im Zusammenhang mit der konkreten Umsetzung des Biodiversitätsabkommens bleiben bisher viele Fragen offen. So ist beispielsweise die genaue Definition der Schutzflächen unklar. Auch in Bezug auf den Vorteilsausgleich für die Nutzung von genetischen Sequenzdaten muss der vorgesehene multilaterale Mechanismus, welcher einen internationalen Fonds vorsieht, erst noch ausgestaltet werden. Bilaterale Verhandlungen zur Nutzung genetischer Ressourcen sind mit beträchtlichem administrativem Aufwand und rechtlicher Unsicherheit verbunden. Dabei sind Forschung und Innovation auf der Grundlage der biologischen Vielfalt Schlüsselfaktoren für die Bereitstellung von Lösungen zur Bewältigung von Umweltproblemen und anderen globalen Herausforderungen. Für die Wirtschaft ist daher ein effizienter multilateraler Ansatz und dessen zeitgerechte und praktikable Umsetzung besonders wichtig.
Schliesslich müssen die lokalen Besonderheiten berücksichtigt werden. Jedes Land ist so einzigartig wie seine Flora und Fauna. Deshalb braucht es international koordinierte Massnahmen, aber eine lokal massgeschneiderte Umsetzung. Die Schweiz beispielsweise ist zu fast 60 Prozent geprägt vom einzigartigen Naturraum der Alpen mit grossem Beitrag zur Biodiversität. Bereits 19 Prozent des Kulturlandes sind für die Förderung der Biodiversität ausgeschieden und grösstenteils auch miteinander vernetzt. Weitere Flächen stehen nicht zur Verfügung, wenn die Ziele der Ernährungssicherheit erreicht werden sollen. Gleichzeitig konzentriert sich ein grosser Teil unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im Mittelland, das rund 30 Prozent der Fläche einnimmt und durch eine Bevölkerung beansprucht wird, die rund acht Mal schneller als im europäischen Schnitt wächst. Diesen Sonderfall gilt es in der Umsetzung zu berücksichtigen, zum Beispiel für die Landwirtschaft oder die Energieversorgung.
Es braucht pragmatische Lösungen beim Schutz der Biodiversität
Das beschlossene Biodiversitätsabkommen legt Ziele und Vorgaben für das nächste Jahrzehnt fest. Die Wirtschaft fordert eine zielgerichtete Umsetzung dieser Massnahmen:
1. Unterschiedliche Schutz- und Nutzinteressen unter einen Hut bringen: Zielkonflikte zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aktivität, Energieversorgung, landwirtschaftlicher Produktion sowie Ressourcen- und Landschaftsschutz müssen offen adressiert werden. Das Abkommen bietet bei der Umsetzung des Flächenziels aber auch definitorischen Spielraum, welcher von der Schweiz genutzt werden sollte. Beispielsweise kommt der Ausbau der erneuerbaren Energien im Kampf gegen den Klimawandel auch der Biodiversität zugute. Denn der Klimawandel ist eine der Hauptursachen für den Verlust der Biodiversität. Und eine geschickte, hoch effiziente Flächennutzung bei Bauten und in der landwirtschaftlichen Produktion lässt Freiflächen für Biodiversität zu.
2. Praxistaugliche Lösungen beim Vorteilsausgleich zur Nutzung genetischer Ressourcen: Die Industrie unterstützt die Entwicklung eines multilateralen Mechanismus für den Vorteilsausgleich, der sowohl die Nutzung von genetischen Ressourcen wie von digitaler Sequenzinformation mit abdeckt. Die Schweiz kann hier beitragen, eine möglichst effiziente und praxistaugliche Lösung bei der Ausgestaltung des multilateralen Mechanismus voranzubringen.
3. Koordination und Diplomatie nutzen: Eine nationale Strategie würde nicht ausreichen, eine solche globale Herausforderung zu meistern. Zur Erreichung einer kongruenten Umsetzung der einzelnen Ziele und Massnahmen sind daher weiterhin Diplomatie und eine gute Abstimmung zwischen den Staaten gefragt.