Gefährdet die Inflation die Kaufkraft?
Mit der Stabilität des Preisniveaus scheint es erstmal vorbei. In den USA stiegen die Konsumentenpreise im März im Vergleich zum Vorjahresmonat um 8,5 Prozent – der stärkste Anstieg seit 1981. Im Euroraum beträgt die Zunahme 7,4 Prozent. Und in der Schweiz erhöhte sich der Landesindex der Konsumentenpreise um 2,4 Prozent. Bedroht die Preisentwicklung die Kaufkraft in der Schweiz? Und was kann dagegen getan werden?
Die steigende Preisentwicklung hat viel mit der aktuell besonderen Lage zu tun. Einerseits ist die weltweite Nachfrage nach Gütern und Produkten nach den Corona-Lockdowns kräftig angestiegen. Diese wurde durch die Rettungspakete der Regierungen und die Geldspritzen der Nationalbanken zusätzlich befeuert.
Andererseits traf die gestiegene Nachfrage dabei auf eine aus dem Takt geratene Produktion. Viele Hersteller konnten ihre Fabriken nicht ausreichend schnell wieder hochfahren. Gleichzeitig wurden durch die pandemiebedingten Eindämmungsmassnahmen auch die Lieferketten gestört. Und nun verschärft der Ukraine-Krieg das Problem: Neue Lieferengpässe und höhere Rohstoff- und Energiepreise verteuern die Produktion zusätzlich.
Starker Franken bremst Teuerung
Trotz all der Schwierigkeiten sind die Preise hierzulande deutlich weniger stark angestiegen als im Ausland. Das hängt insbesondere mit dem starken Franken zusammen, der Preisaufschläge auf ausländische Produkte mindert. Aber auch die Zusammensetzung des Konsumentenpreisindex spielt eine Rolle: Die Konsumentinnen und Konsumenten geben in der Schweiz weniger für fossile Energien aus als in den USA oder Deutschland. Zudem ist die Energieeffizienz der Firmen höher.
Dennoch: Die Preisschübe machen sich auch in der Schweiz bemerkbar – besonders bei den Unternehmen. Im Vergleich zum März 2021 stieg der Produzenten- und Importpreisindex um 6,1 Prozent an, jener nur für Importpreise sogar um 10,2 Prozent.
Preisentwicklung bedroht Kaufkraft
Viele Unternehmen sehen sich aufgrund des gestiegenen Aufwands und der höheren Einkaufspreise gezwungen, ihre eigenen Preise anzupassen. Während die Verkaufspreise für einzelne Komponenten um den Faktor 100 oder mehr gestiegen sind, ist auch in den kommenden Monaten ein Anstieg des Preisniveaus zu erwarten. Auch wenn ein grosser Teil des Preisdrucks über die Margen abgefangen werden wird, werden die Probleme mit stockenden Logistikketten, kriegsbedingt hohen Energiepreisen und fehlenden Bauteilen vermehrt auch in der Schweiz spürbar werden.
Eine Erhöhung des Preisniveaus ist allerdings noch keine Inflation. Von einer solchen kann nur gesprochen werden, wenn sich die Preise auf breiter Front erhöhen und verstetigen. Derzeit geht ein erheblicher Teil der Preiserhöhungen darauf zurück, dass Energie, Rohstoffe oder Halbfabrikate knapp werden. Über höhere Preise signalisieren gerade diese Knappheiten, dass man sparsamer mit den Gütern umgehen soll. Dies ist nicht zu vergleichen mit einer Situation, in der die Preise aufgrund einer zu expansiven Geldpolitik generell steigen und die Inflation die Kaufkraft reduziert. Mit anderen Worten erleben wir derzeit in der Schweiz eine importierte Teuerung, keine generelle inflationäre Entwicklung. Von einer breitflächigen Verminderung der Kaufkraft kann in der Schweiz derzeit also nicht gesprochen werden.
Normalisierung der Geldpolitik tut Not
Doch ist die Situation in vielen Staaten bereits besorgniserregend. Vieles hängt nun davon ab, wie sie sich entwickelt. Steigen die Preise weiter und stagniert gleichzeitig die Wirtschaftsleistung, bezeichnet man dies als Stagflation. Sollte die Produktion sogar sinken, hätten wir bei hohen Inflationsraten eine lupenreine Rezession. Um solchen Szenarien – und damit auch dem Verlust der Kaufkraft – Einhalt zu gebieten, gibt es drei wesentliche Hebel:
Erstens braucht es nun zügig eine Normalisierung der Geldpolitik. Das Preisniveau stabil zu halten ist die Hauptaufgabe der Notenbanken. Die amerikanische Notenbank Fed und die Bank of England haben den Leitzins bereits erhöht. Die Europäische Zentralbank EZB zögert noch, dürfte aber folgen. Dieser Schritt ist angesichts der hohen Inflationsraten überfällig. Auch wenn der Problemdruck hierzulande noch geringer ist, sollte auch die SNB die Zinsen anheben.
Ruhe bewahren
Zweitens steht auch die Politik in der Verantwortung. Angesichts der rekordhohen Staatsschulden – gerade im Euroraum – ist es für die Notenbanken schwierig, die geldpolitische Wende einzuleiten. Steigenden Zinsen könnten die staatliche Zahlungsfähigkeit gefährden. Und auch in der Schweiz ist die Unabhängigkeit der Nationalbank in Gefahr: Die politischen Forderungen an die SNB reichen von der Finanzierung von Klimaprogrammen bis hin zur Sanierung der AHV. Die Politik täte gut daran, auf derartige Forderungen zu verzichten. Soll die Inflation nicht zusätzlich angeheizt werden, heisst es nun die Staatsausgaben zu bremsen. Eine nachhaltige Finanzpolitik ist das beste Mittel für ein stabiles Preisniveau.
Drittens gilt es Ruhe zu bewahren. Die Forderungen der Gewerkschaften nach einem breitflächigen Teuerungsausgleich sind kontraproduktiv. Wenn Unternehmen auf breiter Front höhere Saläre bezahlen müssen, werden sie früher oder später gezwungen, die Preise im Markt zu erhöhen. So kommt die befürchtete Lohn-Preis-Spirale in Gang. Das wäre gefährlich. Aus einer Situation mit einer importierten Teuerung würde eine allgemeine Inflationsentwicklung entstehen. Angesichts des Fachkräftemangels werden die Firmen einen potenziellen Kaufkraftverlust individuell anpassen. Panikmache ist zurzeit nicht angezeigt.
Es gibt also noch Handlungsspielraum, um die Negativszenarien zu verhindern. Aber klar ist: Eine zu späte Reaktion auf die Inflation wäre volkswirtschaftlich sehr teuer – und schlecht für die Kaufkraft.
Dieser Text ist am 3. Mai 2022 als Gastbeitrag in «Le Temps» publiziert worden.