# 2 / 2020
25.06.2020

Biodiversität und Wirtschaft – eine Auslegeordnung

3. Zusammenspiel von Wirtschaft und Biodiversität

Bedeutung der Biodiversität für die Wirtschaft

Rund 40 Prozent der Weltwirtschaft basieren laut dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) auf Naturprodukten und biologischen Prozessen. Die OECD rechnet den Verlust der biologischen Vielfalt denn auch zu den grössten globalen Risiken für die Gesellschaft. Zwischen 1997 und 2011 verlor die Welt geschätzte 4 bis 20 Billionen US-Dollar pro Jahr an Ökosystemleistungen aufgrund von Landbedeckungsänderungen und 6 bis 11 Billionen US-Dollar pro Jahr aufgrund von Landverschlechterung.

Einige Ökosystemleistungen mit direktem Nutzen für die Wirtschaft wurden auch bereits für den Schweizer Kontext quantifiziert. Wirtschaftlich relevant ist mit 19,3 Milliarden Franken pro Jahr (BFS, 2020) etwa das Angebot an wertvollen Natur- und Kulturlandschaften für die kommerzielle Nutzung im Tourismus. Der geschätzte Wert der Bestäubung als Produktionsunterstützungsleistung in der Schweizer Landwirtschaft beläuft sich auf etwa 350 Millionen Franken pro Jahr (Agroscope, 2017). Die Ökosystemleistung «CO2-Speicherung» reduziert volkswirtschaftliche Schäden von geschätzten 193 Franken pro Tonne CO2 (UBA, 2019) erheblich.

Über solche Quantifizierungsansätze hinaus ist die Bedeutung der Biodiversität für die Wirtschaft aber auch über folgende Zusammenhänge ersichtlich:

  • Eindämmung des Klimawandels: Die biologische Vielfalt spielt in vielen klimarelevanten Prozessen eine wichtige Rolle, wie beispielsweise in der Bindung und Freisetzung von CO2, im Wasserkreislauf oder in der Absorption der Sonneneinstrahlung. Veränderungen der Biosphäre haben daher immer auch Folgen für das Klimasystem. Gesunde und widerstandsfähige Ökosysteme sind natürliche und preiswerte CO2-Senken und verfügen über ein grösseres Potenzial zur Abschwächung der Auswirkungen und Anpassung an die Folgen des Klimawandels und damit der Begrenzung der globalen Erwärmung. Sie überstehen extreme Wetterereignisse besser, erholen sich rascher und haben ein breites Nutzenspektrum, auf das die Menschen angewiesen sind.
  • Einfluss auf Einzelunternehmen: Auch auf Ebene der Einzelunternehmen bedeutet die Entwicklung der Biodiversität sowohl Chancen als auch Risiken. Ist das Naturkapital bedroht, verlieren viele Unternehmen die wirtschaftliche Grundlage. Einige Branchen sind unmittelbar an biologische Vielfalt und intakte Ökosysteme gebunden, darunter die Landwirtschaft und die Fischerei, die Pharma- und die Kosmetikindustrie, der Tourismus und die Wasserkraftwerke (vgl. Grafik). Aber auch andere Branchen sind im weiteren Sinne mit Biodiversitätsangelegenheiten verknüpft – etwa über Einhaltung gesetzlicher Vorschriften, Lieferkettenmanagement oder Präferenzänderungen der Stakeholder. 
  • Biodiversität als Reputationsfaktor: Kein Unternehmen will als Umweltsünder bezeichnet werden. Dies umso weniger, als die Bevölkerung zunehmend für Biodiversitätsrisiken sensibilisiert ist. Das World Economic Forum führt jährlich eine Umfrage zu den grössten globalen Risiken durch. Im Jahr 2020 haben zum ersten Mal Umweltbedenken dominiert. Nach dem Klimawandel hat das Multistakeholder-Netzwerk des Forums den «Verlust der biologischen Vielfalt» als das zweitwirksamste und drittwahrscheinlichste Risiko für das nächste Jahrzehnt bewertet. In der Schweiz zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Das Bundesamt für Statistik hat im Jahr 2019 zum dritten Mal nach 2011 und 2015 eine Omnibus-Erhebung über Umweltqualität durchgeführt. In allen Bereichen sind Wohlbefinden und Zufriedenheit gesunken – in der Wohnumgebung ebenso wie beim Blick auf die Welt. 2015 und 2011 hatten 92 Prozent die Umweltqualität in der Schweiz als sehr gut oder eher gut qualifiziert, 2019 waren nur noch 84 Prozent dieser Ansicht. Als grösste Gefahr wahrgenommen werden der Rückgang der Biodiversität und der Klimawandel.

Zahlreiche Branchen sind unmittelbar an die biologische Vielfalt und intakte Ökosysteme gebunden.

Einfluss der Wirtschaft auf die Biodiversität

Der Zustand der Biodiversität beeinflusst die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen. Gleichzeitig beeinflussen Unternehmen aber auch die Biodiversität. Sie nutzen natürliche Ressourcen (z.B. sauberes Wasser) als Input für die Produktion, sie geben zum Teil Schadstoffe in die Umwelt ab (z.B. Abwasser oder Abfall) und sie bewirtschaften Flächen. Wirtschaftszweige wie z.B. der Rohstoffabbau oder die Landwirtschaft können Ökosysteme stark verändern – in beide Richtungen. 
So lassen sich etwa über Kiesgruben und Steinbrüche nicht nur mineralische Rohstoffe wie Kalkstein und Mergel abbauen. Vielmehr bieten diese Abbaugebiete – wenn ökologisch bewirtschaftet – neue Lebensräume für Pflanzen und Tiere, die in der heutigen Kulturlandschaft nur noch wenig geeignete Flächen vorfinden. Brutvögel wie Uferschwalben finden in den steilen Grubenwänden ideale Plätze, um ihre Nester zu bauen. Amphibien, Reptilien und Insekten bieten sich ideale Nischen zum Überleben oder um sich neu anzusiedeln. 
Auch die Anlagepolitik von Investoren oder die Finanzierung von Staudämmen, Minen, Häfen oder Strassen wirken sich auf die Biodiversität aus. Bei sogenannten Projektfinanzierungen werden z.B. durch die Credit Suisse die IFC Performance Standards angewendet, die unter anderem «Biodiversity Conservation» (net positive impact) zum Ziel haben.
Auf der anderen Seite haben Unternehmen ein enormes Potenzial, um den Verlust der biologischen Vielfalt umzukehren. Dies kann etwa über Bewusstseinsbildung bei den Mitarbeitenden geschehen oder über die Auswahl von Lieferanten und Materialien. Auch die Gestaltung der Prozesse im Unternehmen selbst sind relevant sowie der Umweltimpact der angebotenen Produkte. Schliesslich spielt es eine Rolle, wie die Entsorgung bzw. Wiederverwertung allfälliger Abfälle gestaltet wird. 
 

Biodiversität als Geschäftschance 

Die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen unternehmerischer Tätigkeit und Biodiversität bieten auch Chancen für die Unternehmen. Diese liegen etwa in der Erschliessung neuer Kundenwünsche und damit neuer Märkte. Weitere Chancen liegen bei Kosteneinsparungen und der Steigerung der betrieblichen Effizienz, erhöhten Marktanteilen und besseren Beziehungen zu den Stakeholdern. Es gibt Schätzungen, die zeigen, dass sich nachhaltigkeitsbezogene globale Geschäftschancen auf Basis natürlicher Ressourcen (u.a. Energie, Forstwirtschaft, Nahrungsmittel, Landwirtschaft, Wasser, Metalle) bis 2050 im Bereich von 2 bis 6 Billionen US-Dollar bewegen könnten. So wird beispielsweise erwartet, dass der weltweite Markt für biologische Lebensmittel und Getränke um 16 Prozent pro Jahr wächst und bis 2022 327 Milliarden US-Dollar erreicht. Biodiversitätsförderung kann sich auch direkt in der Landwirtschaft auszahlen. Wenn Landwirte die Artenvielfalt auf ihren Wiesen und Weiden fördern, können sie gemäss neuer Forschung höhere Umsätze erzielen. Wachsen auf der Wiese mehrere Pflanzenarten statt nur eine, bleibt die Futterqualität zwar mehr oder weniger gleich, aber der Ertrag wird grösser. In artenreichen Landschaftsausschnitten ist die Produktivität zudem über die Jahre stabiler.

 

Biodiversität als Teil des Risikomanagements

Entscheidend für eine optimale Nutzung der Chancen ist, dass Biodiversitätsfaktoren in Schlüsseldimensionen der Geschäfts- und Investitionsentscheidung integriert werden. Dazu gehören Business-Strategie, Folgenabschätzung und Risikomanagement, externe Berichterstattung sowie Zertifizierungssysteme und Kommunikation. Es sind verschiedene Rechnungslegungsansätze in Erarbeitung, mit denen Unternehmen ihre Auswirkungen, Abhängigkeiten und Risiken auf die biologische Vielfalt bewerten und messen können sollen. Diese stützen sich unter anderem auf Life-Cycle-Assessments, den ökologischen Fussabdruck oder Umweltmanagementsysteme. Diese Ansätze müssen aber weiterentwickelt und verbessert werden, um den Einfluss des Wirtschaftens auf Ökosystemleistungen und Biodiversität noch genauer quantitativ erfassen zu können. Benötigt werden normierte Standards und Metriken, die allgemein anerkannt sind und auf Unternehmensebene eingesetzt werden können.
Neben der Erfassung von Auswirkungen auf die Biodiversität stehen den Unternehmen Möglichkeiten des Risikomanagements zur Verfügung. Beispiele sind die Konzepte des «no net loss», der «ökologischen Neutralität» oder des «net positive impact» sowie spezielle Managementregeln (z.B. für die Wassernutzung). 
Wenn Unternehmen eigene Ausgleichsmassnahmen ausgeschöpft haben, können sie an anderer Stelle für einen Ausgleich («offset») ökologisch negativer Wirkungen sorgen. Einen Leitfaden zur direkten Umsetzung und Implementierung eines Biodiversitätsmanagement-Systems in Unternehmen bietet z.B. das «Handbuch Biodiversitätsmanagement», eine Veröffentlichung der «Biodiversity in Good Company»-Initiative.

Zusammenhang Finanzsektor und Biodiversität 

Finanzierungs- und Investitionsentscheide spielen laut dem Weltbiodiversitätsrat IPBES für die Entwicklung der Biodiversität eine Schlüsselrolle. Gleichzeitig kommen PwC Schweiz und WWF Schweiz in ihrem neuen Bericht zum Schluss, dass die Finanzrisiken im Zusammenhang mit dem Verlust der Biodiversität im Jahbr 2020 zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Im Unterschied zur Klimapolitik besteht im Bereich Biodiversität bisher jedoch kein internationales Abkommen, das verlangt, dass Finanzflüsse biodiversitätsfreundlich umgelenkt werden müssten. Trotzdem integriert etwa der EU-Aktionsplan für «Sustainable Finance» das Thema Biodiversität als eines von sechs Zielkriterien der derzeit entstehenden Taxonomie.
Im Unterschied zur Berücksichtigung von allgemeinen Nachhaltigkeitskriterien steht die Integration von Biodiversitätsrisiken noch am Anfang. Dies unter anderem deswegen, weil diese ganz spezifisch an lokale Gegebenheiten geknüpft sind und eine sehr kleinräumige Betrachtung bedingen. Dies ist wesentlich komplexer als z.B. die Berücksichtigung von Klimaemissionen oder der Wirkungen derselben. Zudem fehlen bis heute oftmals Daten, die eine exakte Analyse zu Biodiversitätsrisiken ermöglichen würden. Credit Suisse hat in diesem Zusammenhang verschiedene «Thought Leadership»-Studien zu Conservation Finance herausgegeben, die der Berücksichtigung von Biodiversitätsrisiken und vor allem Biodiversitätschancen den Weg bereiten sollen. [1][2]
Im weiteren Sinne wird Nachhaltigkeit von Finanzdienstleistern jedoch schon seit über 30 Jahren berücksichtigt. Waren es zuerst vor allem Investments in Umweltthemen, ethische Ausschlüsse oder die Überprüfung von Umweltkreditrisiken, so sind nachhaltige Finanzen heute ein enorm breites Feld mit vielen Ansätzen und Produkten. Finanzdienstleister haben zahlreiche verschiedene Rollen, agieren aber immer als «Intermediäre» zwischen einem Investor (sei das ein Privatinvestor oder ein Staat) und der Realwirtschaft. Dies bedeutet auch, dass die Finanzunternehmen nicht allein in die Pflicht genommen werden können bezüglich Setzung von Wirkungszielen. Gleichzeitig ist es nicht sinnvoll, dass Finanzunternehmen nur mit solchen Betrieben geschäftlich tätig sind, die voll und ganz den Umweltansprüchen gerecht werden, sei es in der Produktion oder der Vermarktung.