Wie er­leb­ten Sie die 1990er‑Jahre?

Die 1990er-Jahre seien ein gol­de­nes Zeit­al­ter für die Schwei­zer Wirt­schaft ge­we­sen, schrieb die «Welt­wo­che» Mitte Au­gust. Wenn ich auf diese Zeit zu­rück­bli­cke, denke ich an Ar­beits­lo­sig­keit. Sie war da­mals dop­pelt so hoch wie heute. Die In­dus­trie ver­la­ger­te rei­hen­wei­se Ar­beits­plät­ze ins Aus­land. Bund und Kan­to­ne türm­ten in­nert kur­zer Zeit hohe Schul­den­ber­ge auf. Und viele Fa­mi­li­en muss­ten ihr Ei­gen­heim ver­kau­fen, weil sie die schwe­re Hy­po­the­kar­last nicht mehr stem­men konn­ten.

Warum also meint der Jour­na­list François Schal­ler in sei­nem «Welt­wo­che»-Ar­ti­kel, die 1990er-Jahre seien gol­den ge­we­sen? An­hand der Re­for­men in der Schweiz ver­sucht er zu zei­gen, dass die Zeit nach dem EWR-Nein 1992 wirt­schaft­lich gut ge­we­sen sei. Die Bi­la­te­ra­len I wür­den heute mas­siv über­be­wer­tet. Mehr noch: Sie seien gar nicht der Grund für die aus­ge­zeich­ne­te Wirt­schafts­ent­wick­lung nach deren An­nah­me im Jahr 2002.

Das Nein zum EWR hat die In­ves­ti­ti­ons­freu­de in der Schweiz stark ge­dämpft.

Möch­te uns Schal­ler vor­be­rei­ten für den Fall, dass die Schweiz mit der Um­set­zung der Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve die Bi­la­te­ra­len I ver­liert?

Das Nein zum EWR hat die In­ves­ti­ti­ons­freu­de in der Schweiz stark ge­dämpft. Dies hat die Re­zes­si­on ver­stärkt – und wohl auch ver­län­gert. Sie ent­stand aber aus an­de­ren Grün­den: Die Im­mo­bi­li­en­bla­se platz­te und die Schweiz muss­te die In­fla­ti­on be­kämp­fen.  

Das Nein zum EWR und ein all­fäl­li­ger Ver­lust der Bi­la­te­ra­len I sind al­ler­dings zwei Paar Schu­he: 1992 ver­sperr­ten wir uns den Zu­gang zum EU-Bin­nen­markt. Wür­den wir heute die Bi­la­te­ra­len I ver­lie­ren, wür­den wir  den guten Zu­gang zu un­se­rem wich­tigs­ten Ab­satz­markt ein­büs­sen. Und wäh­rend die Schweiz nach dem EWR-Nein schon bald Ver­hand­lun­gen über die Bi­la­te­ra­len Ab­kom­men auf­nahm, wäre dies heute bei einer Kün­di­gung der Bi­la­te­ra­len I nicht ga­ran­tiert. Wäre das nun po­si­tiv oder ne­ga­tiv für das nächs­te Jahr­zehnt?

Zudem: An­fang der 1990er-Jahre wies die Schweiz einen gros­sen Re­form­be­darf auf. Viele Re­for­men, von der Swiss­lex bis zur Schul­den­brem­se, führ­ten zu einer schritt­wei­sen Ver­bes­se­rung der in­ter­na­tio­na­len Wett­be­werbs­fä­hig­keit. Hier ist die Schweiz un­ter­des­sen in die Welt­spit­ze vor­ge­drun­gen. Wenn nun die Bi­la­te­ra­len I weg­fie­len, könn­ten wir den ent­stan­de­nen Scha­den nicht wie­der durch Re­for­men aus­glei­chen wie vor 20 Jah­ren. Das wäre auch des­halb kaum mög­lich, weil die Ver­füg­bar­keit hoch­qua­li­fi­zier­ter Ar­beits­kräf­te die in­ter­na­tio­na­le Wett­be­werbs­fä­hig­keit mass­geb­lich mit­be­stimmt.  

Doch war in den 1990er-Jah­ren auch nicht alles schlecht: Eu­ro­pa war im Auf­bruch. Wir waren jün­ger und die «Welt­wo­che» hatte da­mals noch eine Auf­la­ge von über 100‘000 Ex­em­pla­ren.