# 4 / 2023
10.03.2023

Wächst die Schweiz vor allem in die Breite?

Die Fakten: Wächst die Schweiz vor allem in die Breite?

Beginnen wir mit dem Niveau: Wie gross ist das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Dollar gemessen? Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der Schweiz und einiger ausgewählter Länder auf. Der Wert für die Schweiz ist beeindruckend: Er liegt fast 50 Prozent höher als in den USA, mehr als doppelt so gross wie in Deutschland und beinahe dreimal so hoch wie in Italien. Die absolute Differenz zwischen der Schweiz und den anderen Ländern sank in den 1990er-Jahren, um in den Jahren ab 2000 wieder zuzulegen. Die Schweizerinnen und Schweizer verfügen somit im internationalen Vergleich im Durchschnitt über eine ausgesprochen hohe internationale Kaufkraft.

Reales BIP-Wachstum pro Kopf im internationalen Vergleich

Fokussieren wir uns nun auf das prozentuale Wachstum: Wie stark hat das BIP pro Kopf seit dem Jahr 2000 zugenommen? Tabelle 2 zeigt, dass trotz des sehr hohen Niveaus das reale BIP pro Kopf in der Schweiz um 19 Prozent gewachsen ist. Die Zunahme pro Kopf war damit leicht höher als in Dänemark und den Niederlanden und deutlich höher als in den Nachbarländern Frankreich und Italien.

Im Vergleich mit Deutschland schneidet die Schweiz etwas schlechter ab. Wohl hat die deutsche Wirtschaft mit vielen exportorientierten Unternehmen in den letzten Jahren vom schwachen Euro profitiert. Aber das ist nicht der Punkt: Den Deutschen geht es wegen dem etwas höheren Pro-Kopf-Wachstum nicht besser als den Schweizern. Wie erwähnt, ist das BIP pro Kopf in der Schweiz seit vielen Jahren deutlich höher als in Deutschland und in vielen anderen Ländern. Daher stellt sich ein Basiseffekt ein: Eine Zunahme des BIP pro Kopf um 19 Prozent bedeutet für die Schweiz absolut eine Steigerung um fast 14’000 US-Dollar. Eine Zunahme des BIP pro Kopf um 22 Prozent bedeutet für Deutschland eine Steigerung von lediglich rund 7600 US-Dollar. Der Wohlstand ist inflationsbereinigt in der Schweiz im Vergleich zu den anderen Ländern in der Tabelle also am stärksten gestiegen. Selbst in den USA fällt die absolute Zunahme des BIP pro Kopf kleiner aus. Berücksichtigt man auch die Kaufkraft, sind die Unterschiede aufgrund der höheren Preise in der Schweiz nicht mehr ganz so gross, der Wohlstand pro Kopf ist hier dennoch um 800 US-Dollar mehr gestiegen als in Deutschland. Einzig die USA weisen noch höhere Zunahmen auf als die Schweiz.

Produktivität

Die bisherige Diskussion hat gezeigt, dass die Behauptung, die Bevölkerung habe wenig vom Wirtschaftswachstum und die Schweiz sei nur aufgrund der Zuwanderung gewachsen, falsch ist. Es ist zwar offensichtlich, dass ein Teil des BIP-Wachstums der steigenden Bevölkerungszahl zuzuschreiben ist. Ein wesentlicher Teil des Wachstums konnte die Schweiz aber durch eine höhere Arbeitsproduktivität erzielen.

Bemessen am BIP pro Beschäftigte (Erwerbstätige) hat die Produktivität in der Schweiz seit 2000 um 13 Prozent und damit stärker als beispielsweise in Deutschland zugenommen. Das ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass in der Schweiz die Arbeitsmarktpartizipation sehr hoch ist. Der Anteil der Personen von 15 bis 64 Jahren, die in der Arbeitswelt integriert sind, liegt in der Schweiz aktuell bei 83 Prozent und damit höher als in den anderen Ländern. Dies vor allem dank der Berufslehre, die zu einer hohen Partizipation bei den Jungen führt, und dank einer stärkeren Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. In den USA ist ein gegenläufiger Trend zu beobachten. Hier sinkt die Arbeitsmarktpartizipation. Diejenigen, die im Arbeitsmarkt verbleiben, haben ihre Produktivität aber deutlich erhöht. Die Zahlen fallen zwar auch deswegen so gut für die USA aus, weil alle Vergleiche in Dollar umgerechnet werden. Doch die starke Steigerung der Produktivität ist auch das Resultat davon, dass die USA in Trendbranchen wie der Informationstechnologien die Nase vorne haben.

Etwas verzerrt wird der Vergleich allerdings dadurch, dass insgesamt weniger gearbeitet wird. So hat die jährliche Arbeitszeit in der Schweiz und Deutschland stärker abgenommen als etwa in Frankreich, in den Niederlanden oder in den USA. Wenn weniger gearbeitet wird, hat dies einen negativen Effekt auf die Jahresproduktivität.

Weniger beeinflusst vom jährlichen Arbeitsvolumen ist die Produktivität einer Person pro Arbeitsstunde. Auch hier zeigt sich im Falle der Schweiz die gute Entwicklung der Arbeitsproduktivität: Das BIP pro geleistete Arbeitsstunde ist in der Schweiz seit der Jahrtausendwende um 24 Prozent gestiegen. Die Schweiz schlägt die Nachbarländer deutlich: So hat sich die Produktivität in der Schweiz besser entwickelt als etwa in Deutschland, sowohl real als auch kaufkraftbereinigt betrachtet. Von den Vergleichsländern weist einzig die USA eine deutlich und Dänemark eine leicht bessere Entwicklung auf.

Freizeit

Der Wohlstand in der Schweiz ist dank dem soliden Wirtschaftswachstum gestiegen, sowohl für die Volkswirtschaft als Ganzes als auch für jede einzelne Person. Die Bevölkerung ist produktiver geworden und die exportorientierten Unternehmen sind international wettbewerbsfähig. Dies alles konnte die Schweiz erreichen und gleichzeitig die durchschnittliche Jahresarbeitszeit seit dem Jahr 2000 um acht Prozent reduzieren. Die Beschäftigten verzichten also auf ein noch höheres monetäres Einkommen und konsumieren dafür mehr Freizeit. Wäre dies nicht der Fall, würde das BIP pro Kopf noch höher ausfallen. Im Schnitt arbeitete eine beschäftigte Person im ganzen Jahr 2021 knapp 137 Stunden weniger als noch vor 20 Jahren.

Qualifikation der Zuwanderung

Eine Erklärung für die deutlich verbesserte Produktivitätsentwicklung seit den 2000er-Jahren ist die bessere Qualifikation der zugewanderten Personen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) untersucht regelmässig, wie sich die Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Dieses Monitoring zeigt, dass eine Mehrheit der zugewanderten Arbeitskräfte aus dem EU-/Efta-Raum gut bis sehr gut qualifiziert ist. Im Durchschnitt der Jahre 2020 bis 2021 hatten 84 Prozent der Zugewanderten mindestens einen Abschluss auf Sekundarstufe II, 51 Prozent verfügten sogar über einen tertiären Abschluss. Entsprechend gab es einen gewissen Lohndruck für gut qualifizierte Inländer, für einheimische Beschäftigte mit tiefen und mittleren Qualifikationen hat sich die Lage seit Einführung der Personenfreizügigkeit hingegen sogar verbessert. Die befürchtete Verdrängung einheimischer Arbeitnehmer durch zugewanderte Personen ist nicht eingetreten. Vielmehr herrscht in der Schweiz ein anhaltender Mangel an Fachkräften, über die meisten Branchen hinweg sowohl für hoch- wie auch für niedrigqualifizierte Positionen.

Löhne und wie lange man für ein iPhone arbeiten muss

Die bisherigen Vergleiche mögen etwas abstrakt daherkommen. Überführen wir nun die Diskussion auf leicht verständliche Grössen. Die Produktivität eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin bestimmt, wie «wertvoll» diese Person für das Unternehmen ist. Je höher die Produktivität, desto mehr bzw. desto wertvollere Güter oder Dienstleistungen stellt eine Person her, was wiederum die Erträge des Unternehmens erhöht. Diese Leistung wird entschädigt: Je höher die Produktivität ist, desto höher ist in aller Regel der Lohn. Die folgende Tabelle zeigt den Durchschnittslohn in der Schweiz, in den USA und in Deutschland.

Interessant ist nun die Beantwortung der Frage, wie lange Arbeitnehmende zu arbeiten brauchen, um sich zum Beispiel ein iPhone leisten zu können. In der Schweiz muss man lediglich 22 Stunden für ein iPhone arbeiten, in Deutschland sind es 43 Stunden und in den USA 31 Stunden. Dies zeigt, wie kaufkräftig die Schweizerinnen und Schweizer gerade bei international gehandelten Gütern oder in den Ferien sind. Diese Verhältnisse widerspiegeln in etwa die Verhältnisse beim realen BIP pro Kopf der Bevölkerung.

Erinnern wir uns an den Zusammenhang, dass reiche Volkswirtschaften auch hohe Preise aufweisen, weil die Löhne aller ansteigen und lokal hergestellte Güter und Dienstleistungen entsprechend teuer sind. Der Big Mac eignet sich gut für den Vergleich von lokal hergestellten Gütern. Neben den Löhnen fallen auch Kosten für Miete, Energie und Rohstoffe an. Im Falle der Schweiz führt der Agrarprotektionismus zudem zu sehr hohen Rindfleischpreisen, was die Produktion des Big Mac verteuert und den Vergleich etwas verzerrt. Trotz der deutlich höheren Kosten und Preise in der Schweiz muss eine Person deutlich weniger lange als in Deutschland und etwa gleich lang wie in den USA arbeiten, um sich einen Big Mac leisten zu können. Dieser Vergleich widerspiegelt in etwa die voranstehende Diskussion rund um das kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf der Bevölkerung.