Berlinger AG

Berlinger AG: Die Kunst, sich neu zu erfinden

In den vergangenen Jahrzehnten hat ein grundlegender Strukturwandel die Schweizer Wirtschaft erfasst, der sich in den Entwicklungsgeschichten vieler Traditionsfirmen nachvollziehen lässt. So auch in jener der Berlinger AG, die vor 150 Jahren als Textilbetrieb startete und heute manipulationssichere Probenfläschchen für Doping- und Drogenkontrollen und Temperaturdiagnoseinstrumente für den Weltmarkt produziert. Ausschlaggebend für den heutigen Erfolg war aber ausgerechnet eine Katastrophe.

Als ihre Weberei im Jahr 1902 bis auf die Grundmauern abbrannte, ging auch die Existenzgrundlage der Familie Berlinger von einem Tag auf den anderen in Rauch auf. Durch Erfindungsgeist und harte Arbeit gelang es den Berlingers in den Folgejahren, sich finanziell über Wasser zu halten.

Werte wie die Bereitschaft zu ständiger Weiterentwicklung sowie ein starkes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit prägen noch heute das Handeln der Unternehmerfamilie aus dem Toggenburg. Diese muss sich inzwischen aber auf ganz anderen Geschäftsfeldern als in der Textilbranche bewähren. Der Verlust der Weberei – der ersten in der Region, die mechanisch betrieben wurde – stellt im Rückblick einen Einschnitt dar, weil die Berlingers ihr unternehmerisches Glück von da an in anderen Märkten suchten und auch fanden. 

Heute ist das im Jahr 1865 gegründete Familienunternehmen mit seiner Sparte «Berlinger special» Weltmarktführer für Sicherheitsbehältnisse und Probenfläschchen, wie sie bei Doping- und Drogenkontrollen zum Einsatz kommen. Veranstalter internationaler Sportereignisse wie Fussball- und Leichtathletikweltmeisterschaften und der Olympischen Spiele vertrauen auf die Sicherheitstechnik aus Ganterschwil. Der Löwenanteil am Umsatz – rund 65 Prozent – wird hingegen mit Temperaturmessgeräten generiert. Sie ermöglichen einen sachgerechten Transport sensibler Stoffe, beispielsweise Impfseren. Die Wandlung vom Textilproduzenten hin zum Anbieter medizinischer Sicherheitslösungen verlief dabei alles andere als gradlinig. Ausserdem musste die Berlinger AG in den vergangenen hundert Jahren mehrmals ihr Geschäftsmodell überarbeiten oder sich gar gänzlich neu erfinden. 

Ursprünglich stellte Berlinger Stoffe wie diese Stickereien her. Die textile Vergangenheit des Unternehmens lässt sich heute in den firmeneigenen Ausstellungsräumen bestaunen. 

Neue Chancen packen

Andrea Berlinger Schwyter, Geschäftsführerin und Präsidentin, empfängt uns am historischen Hauptsitz der Familie in Ganterschwil und erinnert sich: «Nach dem Brand erfand mein Grossvater ein Schrägband zur Herstellung von Miederware und begann mit der Produktion. Auch der Einstieg in die Buchbinderei half, der Familie ein Auskommen zu sichern.» Doch dabei blieb es nicht. Die Firma hielt sich alle Optionen offen und zeigte sich neuen Trends und Innovationen gegenüber sehr aufgeschlossen. Kurz darauf stieg das Unternehmen in das Geschäft mit Kletthaftverschlüssen ein und fungierte für die deutsche Firma Binder als Vertriebspartner. Miederwaren, Bucheinbände und Kletthaftverschlüsse bildeten zwar verschiedene Produktkategorien, standen aber in gewisser Weise noch in der Tradition der Textilverarbeitung. 

Als sich in den frühen 1970er-Jahren die Grosswetterlage für die Textilindustrie zusehends verschlechterte und viele Schweizer Hersteller ihre Produktion ins Ausland verlagerten, begann die Familie, wegen der hohen Kosten in der Schweiz über eine grundlegende Neuausrichtung nachzudenken. Die zusehends globalisierte Weltwirtschaft mit ihren neuen Märkten und Konkurrenten zwang zu einem Umdenken.

Durch den Handel mit Klettverschlüssen bestanden Kontakte zum amerikanischen Technologiekonzern 3M. Das erlaubte es dem Unternehmen, Einblick in die Welt der Technik zu erhalten und vom Know-how des Kooperationspartners zu profitieren. Das Ergebnis der fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Amerikanern war eine Karte zur Temperaturkontrolle bei Impfseren – der erste Schritt der Berlinger AG zu einem Technologieunternehmen. Heute stellt Berlinger eine ganze Reihe selbst entwickelter Sensoren her, die die Temperatur während des Versands der Impfseren kontinuierlich messen und die gewonnenen Informationen in einem PDF-Dokument zusammenfassen. Der Empfänger der Lieferung, beispielsweise ein Labor, kann nach Erhalt der Produkte sofort auf die Daten zugreifen und prüfen, ob zulässige Grenzwerte zu irgendeinem Zeitpunkt überschritten wurden. Andrea Berlinger Schwyter ist überzeugt, dass der Entscheid für diesen strategischen Kurswechsel richtig war: «Uns hat die Geschichte gelehrt, dass es wichtig ist, auf mehr als einem Standbein zu stehen. Die Kunst dabei ist freilich, sich nicht zu verzetteln», sagt sie mit einem Augenzwinkern.

Eine Auswahl verschiedener Temperatursensoren aus dem Sortiment der Berlinger AG. 

 

Der Fokus auf eine neue Technologie änderte aber nichts daran, dass man lukrativ erscheinenden Geschäftsideen gegenüber weiterhin aufgeschlossen blieb. So registrierte Berlinger aufmerksam, dass die bisher angewandten Mechanismen zur Versiegelung von Dopingproben zunehmend in die Kritik gerieten. Sie boten nur lückenhaft Schutz gegen Manipulationen. In den 1990er-Jahren war es im Zuge der Dopingbekämpfung beispielsweise noch durchaus üblich, Probenbehältnisse nur mit einem Siegelstempel gegen unerlaubtes Öffnen zu sichern. Die Nachfrage nach neuen Sicherheitslösungen in diesem Bereich war offensichtlich. Die Berlinger AG packte diese Chance. 1998 wurde die Tochtersparte «Berlinger special» gegründet. Ziel war, ein in Zusammenarbeit mit Swiss Olympics, dem Dachverband des Schweizer Sports,  entwickeltes Sicherheitsfläschchen zu vermarkten. «Berlinger special», die die Fläschchen herstellt und vertreibt, trägt heute rund ein Drittel zum Gesamtumsatz des Familienunternehmens bei. Viele internationale Kunden vertrauen bei ihrem Kampf gegen Doping inzwischen auf die manipulationssicheren Produkte. Denn einmal verschlossen, lassen sie sich nur mit roher Gewalt wieder öffnen.

An die textile Vergangenheit des Familienunternehmens erinnern heute nur noch einige Stickereien und eine grosse Schneidemaschine in den Ausstellungsräumen des vor ein paar Jahren eröffneten, hochmodernen Produktionszentrums im Ortskern von Ganterschwil. Dort wird anhand der Prinzipien des «Lean Managements» gearbeitet: Jeder einzelne Arbeitsschritt und Handgriff der Mitarbeitenden ist in ein Gesamtkonzept eingebunden, das maximale Effizienz zum Ziel hat. Maschinen und Arbeitsgruppen sind beispielsweise so angeordnet, dass sie einen optimalen Produktionsfluss erlauben und das Auftreten von Fehlern deutlich reduzieren. Dem Besucher sticht sofort ins Auge, dass die Produktionshallen sehr sauber und aufgeräumt sind. Abfälle werden sofort entsorgt und Hilfsmittel an den für sie bestimmten Platz zurückgebracht. Auch diese Vorschriften wurzeln in der «Lean Management»-Methode, vermeiden sie doch unnötige Handgriffe und kleinere Wartungsarbeiten, die sich in der Summe betrachtet negativ auf die Produktivität auswirken. 

Drei Generationen Sicherheitstechnik: ein Siegelstempel, ein von Berlinger entwickelter Klebestreifen und dessen Nachfolger, das manipulationssichere Probenfläschchen (v.l.n.r.).

Nichts wird dem Zufall überlassen: Alle Utensilien haben ihren festen Platz und Produktteile werden in schwarzen Boxen zusammengesetzt, um die Übersichtlichkeit am Arbeitsplatz zu erhalten.

 

Innovativ ist, wer Chancen frühzeitig erkennt

Die Schwerpunktverschiebung hin zu medizinischer Messtechnik verwandelte die Berlinger AG in ein neues Unternehmen. Wie ein Schmetterling, der sich aus seiner Verpuppung befreit, hat sich die Firma auf besonders wertschöpfende Aktivitäten fokussiert: Im Jahr 2002 endete die Produktion des Schrägbandes. 2010 stellte man das Geschäft mit Klettverschlüssen und im Jahr 2012 jenes mit Bucheinbänden ein. 

Im vergangenen Jahr, kurz vor den Feierlichkeiten zum 150. Jahr des Bestehens, verkündete die Firmenleitung stolz eine Premiere – den ersten Zukauf der Firmengeschichte. Die Übernahme des niederländischen Softwareentwicklers Antaris Solutions – mit dem Berlinger seit 2011 zusammengearbeitet hatte – soll die richtigen Weichen für eine erfolgreiche Zukunft stellen. Die Verwendung der internetbasierten Antaris-Anwendung «SmartView», die gestützt auf RFID- Funkchips die lückenlose Überwachung von Lieferketten und Lagerhäusern ebenso wie eine integrierte Temperaturdiagnose im Verbund mit Zwischenhändlern und Kunden ermöglicht, hatte sich bewährt. Ziel des Kaufs war, die Exklusivrechte für diese vielversprechende Technologie zu sichern. Antaris geriet auch deswegen in den Fokus des Interesses, weil die niederländische Unternehmung als Anbieter von IT-Lösungen im Kühlkettenmanagement quasi eine Schlüsselposition zwischen den beiden Berlinger-Produktgruppen einnehmen. Andrea Berlinger Schwyter erhofft sich vom Zusammenschluss, dass kombinierte Lösungen für Hardware und Software künftig aus einer Hand angeboten und noch kundenfreundlichere Dienstleistungen erbracht werden können.

Daten werden unzweifelhaft zu den wichtigsten «Rohstoffen» des 21. Jahrhunderts gehören. Vor diesem Hintergrund stellt die Integration von Antaris einen strategischen Einstieg in die digital vernetzte Wirtschaft der Zukunft dar. Möglicherweise wird die Informationstechnologie eines Tages auch das Sprungbrett sein, von dem aus Berlinger eine weitere Transformation seines Geschäftsmodells einleiten wird. Wohin auch immer die Reise geht, an der starken Verbundenheit mit der Region, die das Unternehmen auszeichnet, und an der Verantwortung, die aus seiner 150-jährigen Familiengeschichte resultiert, wird sich nichts ändern. In Ganterschwil hat man nämlich verstanden, dass nur derjenige innovativ und flexibel sein kann, der auch über ein stabiles Fundament und starke Wurzeln verfügt.

Ein Teil der Ahnengalerie des über 150 Jahre alten Traditionsunternehmens.