# 7 / 2024
13.11.2024

Kündigungsinitiative II: löst keine Probleme, schafft aber zahlreiche neue

Wir sind heute wie auch in Zukunft auf Arbeitskräftezuwanderung angewiesen

Eine starre Bevölkerungsobergrenze schadet der Schweiz massiv

Das starre Festhalten an einer fixen Bevölkerungsobergrenze von zehn Millionen Menschen ist aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht gravierend. Falls aufgrund des überschrittenen Grenzwerts innert kürzester Zeit plötzlich keine oder fast keine Zuwanderung mehr möglich sein sollte, wird dies spürbare negative Konsequenzen für alle Menschen in der Schweiz haben:

  • Viele Unternehmen werden in der Schweiz keine Arbeitskräfte mehr finden und ins Ausland abwandern;
  • die Steuereinnahmen werden dadurch sinken, es werden weniger hochwertige Arbeitsstellen angeboten und die Innovation wird anderswo stattfinden;
  • die Altersvorsorge wird noch schneller und stärker in Schieflage geraten;
  • das Gesundheitssystem wird aufgrund fehlender Ärzte und Pflegefachkräfte rascher an seine Belastungsgrenzen stossen und die Gesundheitsversorgung dadurch verschlechtert;
  • der öffentliche Verkehr müsste wegen Personalmangel ausgedünnt werden;
  • Handwerker für Reparaturen wären kaum mehr zu finden;
  • viele Restaurants, Hotels und Geschäfte müssten ihre Öffnungszeiten verkürzen oder den Betrieb saisonal ganz einstellen;
  • die Landwirtschaft hätte Mühe, genügend Arbeitskräfte zu finden, was die Lebensmittelversorgung beeinträchtigen könnte;
  • und der Infrastruktur- und Wohnungsbau würde erschwert, was die Wohnungsknappheit in den urbanen Zentren weiter verschärft.

Kurzum: Die Schweizer Bevölkerung bezahlt nebst dem Verlust der Bilateralen auch für den Verzicht auf Arbeitskräftezuwanderung einen hohen Preis. Die Kündigungsinitiative II ist unverantwortlich, weil sie die demografische Entwicklung und den Nutzen der Arbeitskräftezuwanderung total ausblendet und den Wohlstand unserer Nachkommen auf diese Weise fahrlässig aufs Spiel setzt.

Ein teures und ineffizientes Kontingentsystem senkt die Zuwanderung nicht

  • Die Kündigungsinitiative II lässt offen, wie die Zuwanderung nach einer Überschreitung des Grenzwerts gesteuert werden soll. Eine wiederkehrende Forderung ist die Wiedereinführung des Kontingentsystems.
  • Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass das Kontingentsystem in der Schweiz zu einer hohen Zuwanderung von mehrheitlich tiefqualifizierten Arbeitskräften führte. So wanderten in den Rekordjahren von 1961 bis 1964 jeweils rund 200'000 Menschen pro Jahr in die Schweiz ein.
  • Ein Systemwechsel führt also nicht automatisch zu weniger Zuwanderung, wie auch das Brexit-Beispiel im vorangehenden Kapitel zeigt. Es sind die wirtschaftliche Lage und die Arbeitsmarktsituation, welche den Bedarf an ausländischen Arbeitskräften bestimmen.
  • Mit einem Kontingentsystem wird ein riesiges Bürokratiemonster beim Bund und den Kantonen geschaffen und die Rekrutierung von Personal durch die Unternehmen massiv verteuert. Diese werden wohl keine andere Wahl haben, als die Kosten auf ihre Kunden abzuwälzen.

Raphael Tobler, Präsident der Swiss Startup Association

«Die Kündigungsinitiative II der SVP ist eine komplette Schnapsidee. Sie führt nicht nur zur Kündigung der Bilateralen, sondern wird den Arbeitskräftemangel in der Schweiz massiv verschärfen. Wir Start-ups sind auf gut qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen. Die Zuwanderung über die Personenfreizügigkeit, die zu rund 70 Prozent direkt in den Arbeitsmarkt erfolgt, ist für uns essenziell. Ich will mir die Verteilkämpfe nach Erreichung der von der Initiative fixierten Obergrenze gar nicht ausmalen. Eines weiss ich aber leider jetzt schon: Wir Start-ups werden garantiert zu kurz kommen.»

Es bleibt unklar, wer künftig auf ausländische Arbeitskräfte verzichten soll

  • Die Kündigungsinitiative II gibt nicht vor, welche Branchen künftig auf ausländische Arbeitskräfte verzichten und wie die negativen Folgen davon aufgefangen werden sollen.
  • Auf Arbeitgeberseite drohen schwere Verteilkämpfe. Insbesondere KMU, Start-ups sowie die Gastronomie- und Hotelleriebranche drohen bei der Verteilung der dringend benötigten Arbeitskräfte auf der Strecke zu bleiben.
  • Fällt die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen im Rahmen der Personenfreizügigkeit weg, drohen weniger Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Pflegepersonal, Hebammen und Architekten von der EU in die Schweiz zu kommen. Gleichzeitig wird die irreguläre Migration durch die Initiative nicht aufgehalten und folglich auch nicht zurückgehen.

Geburtenüberschüsse können Arbeitskräftezuwanderung nicht kompensieren

  • Die Kündigungsinitiative II sieht vor, dass der Bundesrat den Grenzwert ab 2050 jährlich durch Verordnung um den Geburtenüberschuss anpassen kann.
  • Es ist aber völlig unrealistisch zu erwarten, dass wir künftig dank höherer Geburtenüberschüsse auf eine Arbeitskräftezuwanderung verzichten können.
  • So sank die Geburtenrate in der Schweiz 2023 auf ein neues Rekordtief von 1,33 Kinder pro Frau. Insgesamt verzeichnete die Schweiz letztes Jahr 71'666 Todesfälle bei 79'823 Lebendgeburten, was einen Geburtenüberschuss von noch knapp 8157 Menschen ergibt.
  • Aufgrund der voraussichtlich sinkenden Anzahl Geburten und der zunehmenden Anzahl Todesfälle ist auf absehbare Zeit nicht von höheren Geburtenüberschüssen auszugehen.

Demografische Entwicklung: Die Pensionierungswelle reisst grosse Lücken auf

  • Schon heute gehen mehr Arbeitskräfte in Pension, als Junge ins Berufsleben eintreten. In den nächsten Jahren wird die Generation der Babyboomer allmählich aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, und aufgrund der tieferen Geburtenrate werden zu wenige junge Menschen nachrücken.
  • Der Arbeitskräftemangel wird sich also weiter zuspitzen. Nur dank der Nettozuwanderung wird die Erwerbsbevölkerung zumindest nicht schrumpfen. Deren Wachstum wird jedoch geringer ausfallen als bei der nichterwerbsfähigen Bevölkerung.
  • economiesuisse hat die demografische Entwicklung und ihre Folgen für die Schweiz im Dossierpolitik vom Juni 2023 ausführlich dargelegt.

Arbeitskräftezuwanderung über die Personenfreizügigkeit ist Teil der Lösung

  • In vielen Berufsfeldern kann das inländische Angebot an Arbeitskräften den Bedarf schon heute nicht mehr decken.
  • Ein Blick auf die Entwicklung der Anzahl offener Stellen verdeutlicht, dass es in den letzten Jahren schwieriger geworden ist, geeignetes Personal zu finden.
  • Der Arbeitsgeberverband und economiesuisse schätzen im Dossierpolitik vom November 2024, dass aufgrund der demografischen Entwicklung und zur Aufrechterhaltung unseres Wohlstandsniveaus in den zehn Jahren rund 460'000 Erwerbspersonen in Vollzeitäquivalenten (VZÄ) fehlen werden.
  • Die Personenfreizügigkeit mit der EU ist Teil der Lösung: Sie hilft, die negativen Folgen der demografischen Entwicklung abzufedern.

Aus dem EU-Raum kommen hauptsächlich Arbeitskräfte in die Schweiz

  • Die Zuwanderung via Personenfreizügigkeit ist stark arbeitsmarktorientiert. Sieben von zehn Personen, die über die Personenfreizügigkeit aus dem EU-Raum in die Schweiz kommen, wandern direkt in den Arbeitsmarkt ein (siehe jüngster Observatoriumsbericht des Seco).
  • Zudem zeigen die Observatoriumsberichte, dass diese Personen ergänzend zu den einheimischen Arbeitskräften tätig sind. Sie füllen einerseits Lücken in Berufen mit einem geringen Qualifikationsniveau (z.B. Bau, Tourismus, Gastgewerbe, Landwirtschaft, Reinigung). Vor allem aber helfen sie, den Arbeitskräftemangel in spezialisierten Berufsfeldern zu lindern (z.B. Gesundheitswesen, Informatik, Ingenieurwesen, Industrie).
  • Rund 56 Prozent aller EU-Staatsangehörigen, die mit der Personenfreizügigkeit in die Schweiz gekommen sind, verfügen über einen Hochschulabschluss.

Ohne Arbeitskräftezuwanderung gerät die AHV noch schneller in Schieflage

  • Da die Zahl der Rentenbezügerinnen und -bezüger viel schneller wächst als die Zahl der erwerbstätigen Beitragszahlenden, wird die demografische Entwicklung auch für die Finanzierung der AHV zunehmend zum Problem.
  • Gemäss den aktuellsten Zahlen tragen EU-Staatsangehörige 26,3 Prozent zur Finanzierung der 1. Säule (AHV, IV und Erwerbsersatzordnung EO) bei, beziehen aber lediglich 13,4 Prozent der ausbezahlten Leistungen.
  • Fallen die Beiträge der Erwerbstätigen aus der EU weg, müsste die Schweizer Bevölkerung diese Lücke durch höhere Steuern oder Abgaben kompensieren.

Die Arbeitskräftezuwanderung stützt unsere Sozialwerke auch langfristig

  • Eine neue Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen zeigt zudem, dass sich die Zuwanderung auch in langfristiger Perspektive für die AHV, IV und EO positiv auswirkt, also auch unter Berücksichtigung des künftigen Leistungsbezugs der eingewanderten Beitragszahlenden.
  • Hauptgrund dafür ist die durch die Zuwanderung verjüngte Bevölkerungsstruktur, die über Beitragszahlungen den ansteigenden Leistungsbezug kompensiert.
  • Bei den EU-/EFTA-Staatsangehörigen ist das Leistungs-Beitrags-Verhältnis deutlich besser, weil sie im Vergleich zu anderen Zuwanderungsgruppen höhere Einkommen erzielen, ihre Erwerbsbeteiligung grösser ist und sie eine kürzere Zeit in der Schweiz verweilen (siehe Webnews vom 30. Mai 2024).

Ausländerinnen und Ausländer tragen überdurchschnittlich viel zur Innovationsentwicklung in der Schweiz bei

Eine neue Publikation von Avenir Suisse zeigt deutlich: In Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil (26%) leisten Ausländerinnen und Ausländer einen überdurchschnittlich hohen Beitrag an die Schweizer Innovationsleistung.

37 Prozent aller Beschäftigten in den zehn wertschöpfungsstärksten Branchen der Schweiz verfügen über einen ausländischen Pass – in der Pharmabranche sind es sogar 56 Prozent. Bei einer drastischen Reduktion der Nettozuwanderung dürfte der Innovationsstandort Schweiz somit erheblich geschwächt werden.

Schrumpfende Nationen wie Japan stehen vor grossen Herausforderungen

Japans Bevölkerung schrumpft seit Jahren, was zur Entvölkerung ganzer Regionen führt. Zahlreiche Häuser stehen leer, und viele Verkehrsverbindungen werden stillgelegt, da sie unrentabel geworden sind. Da das Land auf Innovation und junge Arbeitskräfte angewiesen ist, stellt der demografische Wandel eine enorme Belastung für die Wirtschaft dar. Prognosen zufolge wird die Bevölkerung von heute 126 Millionen bis 2060 auf etwa 90 Millionen sinken, was den Alterungsprozess weiter beschleunigt und die gebärfähige Generation stark reduziert. Das Rentensystem leidet unter der sinkenden Zahl von Einzahlern, während ältere Menschen häufig schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen. Japan verzeichnet im Vergleich zu anderen Industrienationen ein langsameres Wirtschaftswachstum, da immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.