Kartellgesetzrevision: Grosser Handlungsbedarf aus Sicht der Wirtschaft
Ein Kartellgesetz für die Wirtschaft
Revisionsbedarf in mehreren Bereichen
Ziel der von economiesuisse eingesetzten Arbeitsgruppe KG-Revision war die Ausarbeitung einer KG-Vorlage, welche die Interessen der Gesamtwirtschaft aufgreift. Nach vertiefter Auseinandersetzung mit den jeweiligen Bedürfnissen und den bestehenden kartellrechtlichen Defiziten hat economiesuisse im Verlaufe der Arbeiten die folgenden notwendigen Revisionspunkte identifiziert.
Institutionenreform
Defizite der bestehenden Regelung
Seit der Inkraftsetzung des ersten Kartellgesetzes im Jahr 1964 wurde das schweizerische Wettbewerbsrecht tiefgreifenden Veränderungen unterzogen. Die institutionellen Strukturen wurden indessen, mit Ausnahme einiger weniger Änderungen, nicht den neuen Begebenheiten angepasst. Spätestens mit der Revision 2003 stiegen die Anforderungen an die Wettbewerbsbehörden: Direkte Sanktionen und die Bonusregelung erweiterten das Instrumentarium und erhöhten damit gleichzeitig die Komplexität von Eingriffen. Insbesondere aufgrund der Kompetenz der WEKO, administrative Geldbussen in Millionenhöhe aussprechen zu können, wurden vermehrt auch kritische Stimmen laut, die eine Umstrukturierung der Wettbewerbsbehörde fordern:
Fehlende Unabhängigkeit
Die WEKO ist administrativ dem WBF zugeordnet. Dabei soll die Unabhängigkeit zwischen WEKO und der Bundesverwaltung gewahrt bleiben. Die WEKO geniesst somit im Grundsatz ein hohes Mass an Autonomie und untersteht in fachlicher und inhaltlicher Hinsicht keiner Aufsicht.
Trotz formalrechtlicher Unabhängigkeit enthält das Kartellgesetz jedoch durchaus Kompetenznormen, die eine (politische) Einflussnahme seitens der Bundesbehörden ermöglichen. So kann der Bundesrat zum Beispiel auf Antrag der Beteiligten die Entscheidungen der Behörde revidieren und ausnahmsweise aus überwiegend öffentlichen Interessen für zulässig erklären.
Zusätzliche Abhängigkeiten vom WBF bestehen in Bezug auf das Rechtsmittelverfahren. Die WEKO ist nicht befugt, selbstständig Beschwerde gegen Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts zu erheben. Diese Befugnis liegt ausschliesslich beim WBF. Weiter verfügt die WEKO über keine Budgethoheit. Das Budget wird vom Bundesrat respektive Parlament gesprochen und durch das WBF administriert. Ein weiterer Umstand, der die Unabhängigkeit der WEKO von der Bundesverwaltung gefährdet. So bestimmt sich die personelle und materielle Ausstattung der Wettbewerbsbehörden nach dem politischen Willen der Verwaltungsbehörden.
Ebenso ist das Verhältnis zwischen WEKO und Sekretariat geprägt von Abhängigkeiten. Es fehlt an einer eindeutigen Trennung zwischen Untersuchungs- und Entscheidungsebene. Inkonsistenzen bezüglich der Aufgabenteilung finden sich bereits im Kartellgesetz. So ist das Sekretariat für die Eröffnung einer Untersuchung – wenn auch nur formal – auf die Zustimmung eines Mitglieds des Präsidiums der WEKO angewiesen. Weiter steht es der WEKO offen, Anhörungen zu beschliessen und das Sekretariat mit zusätzlichen Untersuchungsmassnahmen zu beauftragen. Die Unabhängigkeit des Sekretariats als Untersuchungsbehörde ist damit nicht gewährleistet. Demgegenüber übt das Sekretariat wesentlichen Einfluss auf die Entscheidfindung der WEKO aus. Das Sekretariat verfügt über Vollzeitmitarbeitende und somit über erhebliche juristische und ökonomische Fachkompetenz. Die WEKO fungiert hingegen als Milizbehörde. Resultat ist ein strukturell bedingtes Wissens- und Machtgefälle, welches zu einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen WEKO und Sekretariat führen kann. Die Entscheidfindung der WEKO findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Gleichzeitig nehmen jedoch Vertreterinnen und Vertreter des Sekretariats an den Sitzungen teil, die aufgrund ihrer vertieften Dossierkenntnisse über einen erheblichen Wissensvorsprung verfügen und somit die Entscheide massgeblich beeinflussen können. Insbesondere dieser privilegierte Zugang des Sekretariats zur Kommission stösst in der Wirtschaft auf heftige Kritik. So ist nicht auszuschliessen, dass die WEKO den Standpunkt der betroffenen Parteien in einer sachlich und rechtlich durch das Sekretariat vorgespurten Weise zur Kenntnis nimmt.
Mangel an Rechtsstaatlichkeit
Die immer komplexer werdenden Fälle stellen für eine reine Milizbehörde wie die WEKO eine zunehmende Herausforderung dar. Damit einher gehen auch Schwächen aus rechtsstaatlicher Sicht, die Anlass zur Kritik geben.
Aus formalrechtlicher Sicht kamen sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wie auch der EFTA-Gerichtshof zum Schluss, dass das Wettbewerbsbehörden-Modell, wie es auch in der Schweiz praktiziert wird, keine rechtsstaatlichen Mängel aufweist. Gegenstand von Kritik bilden jedoch die in manchen Bereichen fehlenden Leitentscheide, die bei den Unternehmen zu Rechtsunsicherheit und mangelnder Vorhersehbarkeit führen können. Das Sekretariat strebe zu häufig nach einvernehmlichen Regelungen, die der Schaffung einer konsistenten Fallpraxis entgegenstünden. Darüber hinaus seien die Verfahren vor Rechtsmittelbehörden kosten- und ressourcenintensiv und würden von den Parteien nur dann in Erwägung gezogen, wenn die betreffende Sanktion die voraussichtlichen Anwalts- und Verfahrenskosten überschreite. Insbesondere KMU schrecken deshalb vor Beschwerdeverfahren infolge fehlender Finanzierbarkeit zurück.
Bisher diskutierte Verbesserungsansätze
In der Politik und Wirtschaft wurden bereits unterschiedliche Modelle besprochen, die den vorstehend beschriebenen Kritikpunkten gerecht werden sollen. So wurde namentlich im Rahmen der KG-Revision im Jahr 2014 eine institutionelle Neuordnung der Wettbewerbsbehörden diskutiert, wonach das heutige Sekretariat der WEKO in eine rechtlich selbstständige, von der Bundesverwaltung unabhängige Wettbewerbsbehörde überführt und die heutige WEKO zu einem erstinstanzlichen Wettbewerbsgericht aufgewertet werden sollte. Hierdurch sollte eine eindeutige Trennung zwischen Untersuchungs- und Entscheidungsebene erreicht werden: Die Wettbewerbsbehörde wäre mit der Untersuchung betraut, während das Wettbewerbsgericht entscheidet und allfällige Sanktionen ausspricht. Dabei sollte die Kürzung des Instanzenzuges von bisher vier (untersuchendes Sekretariat, entscheidende WEKO, Bundesverwaltungsgericht, Bundesgericht) auf drei (untersuchende Wettbewerbsbehörde, entscheidendes Wettbewerbsgericht, Bundesgericht) involvierte Behörden zu einer Verkürzung der Fristen führen.
Grafik 1: Institutionelle Neuordnung gemäss bundesrätlichem Revisionsvorschlag 2014.
Mit dieser Form der Institutionenreform hatte der Bundesrat die wesentlichen Kritikpunkte am bestehenden institutionellen System adressiert. So wäre namentlich …
… eine institutionelle Unabhängigkeit durch Trennung der Untersuchungs- und Entscheidungsfunktion hergestellt:
… ein fachlich spezialisiertes und professionalisiertes Wettbewerbsgericht geschaffen:
… und eine Verfahrensbeschleunigung angestrebt worden:
Der beschriebene Vorschlag hatte das Parlament seinerzeit nicht zu überzeugen vermocht. Auch wenn die Notwendigkeit einer Institutionenreform im Grundsatz unbestritten war, bestanden Zweifel, ob die vorgeschlagene institutionelle Neuordnung tatsächlich zu einer Fristverkürzung geführt hätte. Die Revision scheiterte daher 2014 im Parlament, obwohl man sich über den Handlungsbedarf grundsätzlich einig war. Dies sollte nun aber nicht Anlass dafür sein, auf eine grössere Revision zu verzichten, im Gegenteil. Es gilt, politische Mehrheiten für eine zukunftsgerichtete und den Bedürfnissen einer modernen Wirtschaft entsprechende Reform zu finden.
Forderungen seitens der Wirtschaft
Seitens der Wirtschaft bestehen heute mehr denn je klare Forderungen nach einer konstruktiven Institutionenreform, die eine klare Trennung zwischen Untersuchungs- und Entscheidungsebene vorsieht. So zeichnet sich die Effizienz einer Wettbewerbsbehörde insbesondere durch eine weitgehende rechtliche und faktische Unabhängigkeit aus. Ob eine solche Aufteilung innerhalb der WEKO und ihrem Sekretariat vollzogen werden kann, ist offen, wäre jedoch dem bestehenden Behördenmodell sicherlich vorzuziehen.
Basierend auf den vorstehend beschriebenen Kernelementen der gescheiterten Institutionenreform 2014, sollte sich eine aus wirtschaftlicher Sicht erstrebenswerte Institutionenreform an den nachfolgenden Grundsätzen orientieren:
- Stärkung der institutionellen Unabhängigkeit: Die konsequente Trennung zwischen Untersuchungs- und Entscheidungsebene sollte Ausgangspunkt der Reformbestrebungen darstellen.
- Eliminierung der rechtsstaatlichen Spannungsfelder: Es gilt die vorbeschriebenen rechtsstaatlichen Mängel zu beseitigen.
- Herstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen ökonomischem und juristischem Fachwissen: Die Beurteilung kartellrechtlicher Sachverhalte erfordert ein ausgewogenes Verhältnis zwischen ökonomischem und juristischem Fachwissen. Dementsprechend ist im Rahmen der Untersuchung und Entscheidfindung auf eine entsprechende personelle Zusammensetzung zu achten.
- Kürzung der Verfahrensdauer: Im Zentrum der Reformierungsbestrebungen sollte zudem die Beschleunigung der Verfahren – sowohl vor der WEKO wie auch den Gerichten – stehen. Im Sinne der Rechtssicherheit sollte ein erster Entscheid innert zwölf Monaten nach Abschluss der Untersuchung vorliegen.
Verbesserung des Widerspruchsverfahrens
Das kartellrechtliche Widerspruchsverfahren ermöglicht es Unternehmen, der Wettbewerbsbehörde eine geplante Verhaltensweise, die als unzulässige Wettbewerbsbeschränkung qualifiziert werden könnte, vorab zu melden. Die heutige Gesetzeslage sieht vor, dass in einem solchen Fall eine Verwaltungssanktion für die betreffende Verhaltensweise entfällt, sofern die Behörde nicht innert fünf Monaten ein Verfahren gegen das Unternehmen eröffnet. Ziel des Widerspruchsverfahrens ist es, dass den Unternehmen innert nützlicher Frist eine Einschätzung darüber abgegeben wird, ob ein beabsichtigtes Vorhaben sanktionsbedroht sein könnte.
Defizite der bestehenden Regelung
Das Widerspruchsverfahren ist in seiner derzeitigen Form starker Kritik ausgesetzt. Die heutige Lösung biete kaum Sicherheit für Unternehmen, die neue Geschäftsfelder erschliessen und Innovationen fördern möchten. Der Revisionsbedarf ist somit unbestritten. Als unbefriedigend wird dabei namentlich die gesetzlich vorgesehene Widerspruchsfrist von fünf Monaten gewertet. Eine solche ist insbesondere für dynamische Märkte zu lang. Möchte das Unternehmen kein Sanktionsrisiko eingehen, kann es das geplante Vorhaben nicht umsetzen oder muss es jeweils nach Eröffnung eines Verfahrens einstellen. Ohne praktische Umsetzung fehlt es wiederum an Erkenntnissen, wie sich das betreffende Verhalten tatsächlich auf dem Markt auswirkt. Im Ergebnis führt dies zu einer Pattsituation: Aufgrund des Investitionsrisikos werden Unternehmen auf eine Umsetzung der (allenfalls sanktionsbedrohten) Verhaltensweise verzichten und die Behörden sind wiederum nicht in der Lage, das Vorhaben konkret zu bewerten, da sich mangels Umsetzung keine Auswirkungen im Markt beobachten lassen. Die eigentliche Intention des Widerspruchsverfahrens, nämlich mehr Rechtssicherheit für die Unternehmen zu schaffen, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht realisieren. Vielmehr birgt das jetzige System die Gefahr, dass Unternehmen auf wirtschaftlich vernünftige und kartellgesetzlich unbedenkliche Verhaltensweisen verzichten.
Bisher diskutierte Verbesserungsansätze
Für die Verbesserung des Widerspruchsverfahrens können die Vorschläge des Bundesrats aus dem Jahr 2014 nicht beigezogen werden:
Weder die seinerzeit vorgeschlagene Fristsenkung von fünf auf zwei Monate noch das später angesetzte Sanktionsrisiko würden zu einer Verbesserung des Widerspruchsverfahrens beitragen.
Die Verkürzung der Widerspruchsfrist soll gemäss damaliger Botschaft «unmittelbar zu einer Vergrösserung der Rechtssicherheit für die Unternehmen» führen. Bei offensichtlich unbedenklichen Vorhaben oder solchen, die keinen direkt sanktionierbaren Tatbestand betreffen, würden die Unternehmen somit bereits innert zwei Monaten Gewissheit erlangen, dass mit der Umsetzung des Vorhabens kein Sanktionsrisiko einhergeht. Unternehmen dürften damit lediglich solche Vorhaben melden, denen eine potenziell sanktionsbedrohte Wettbewerbsbeschränkung innewohnt. Hierbei handelt es sich aber meist um komplexe(re) Sachverhalte, die nicht innert der kurzen Frist von zwei Monaten vollständig evaluiert werden können. Es ist davon auszugehen, dass die Behörde unter Zeitdruck vermehrt Vorabklärungen respektive formelle Untersuchungen durchführen würde, um so den Zeitraum für die Prüfung der Meldung zu verlängern. Ähnliches gilt für die zweite vorgeschlagene Änderung, wonach eine Aufschiebung der Sanktionsdrohung das Investitionsrisiko minimieren soll. Auch diese Anpassung liesse wesentliche wirtschaftliche Aspekte ausser Acht. Die Tatsache, dass eine Sanktion die Eröffnung einer formellen Untersuchung (und nicht bereits einer Vorabklärung) bedarf, führt lediglich dazu, dass der Zeitraum der Ungewissheit verlängert wird.
Forderungen der Wirtschaft
Verbesserungen des Widerspruchsverfahrens müssen zwingend gleichzeitig zu einer Erhöhung der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes führen. Als Vorbild für eine wirkungsvolle Anpassung des Widerspruchsverfahrens könnte das fusionskontrollrechtliche Meldeverfahren dienen. Dieses sieht eine Prüfungspflicht seitens der Behörde mit entsprechendem vorläufigem Vollzugsverbot vor. Der Entscheid über die Zulässigkeit erfolgt in jedem Fall in Form eines anfechtbaren Entscheids, der allenfalls auch Auflagen und Bedingungen enthalten kann. Bezüglich Frist könnte zwischen einfachen und komplexen Fällen differenziert werden, wobei für Letztere beispielsweise eine maximale Behandlungsdauer von vier Monaten eingeräumt wird. Ein solches Verfahren würde nicht nur zu mehr Rechtssicherheit bei den Unternehmen führen, es böte zudem auch die Möglichkeit, den von der Behörde getroffenen Entscheid mittels Beschwerde überprüfen zu lassen
Einführung strafmildernder Compliance-Programme
Defizite der bestehenden Regelung
Bei Vorliegen unzulässiger Wettbewerbsbeschränkungen droht einem Unternehmen eine Geldbusse von bis zu zehn Prozent des in den letzten drei Geschäftsjahren in der Schweiz erzielten Umsatzes. Innerhalb dieses weit gesteckten Rahmens erfolgt die konkrete Bemessung der Sanktion, welche unter Umständen einen substanziellen finanziellen Eingriff darstellen kann. Dementsprechend bemühen sich die Unternehmen verstärkt, Wettbewerbsverstösse durch organisatorische Massnahmen (sog. Compliance) zu verhindern. Bisher bestehen keine gesetzlichen Vorschriften, welche die Wettbewerbsbehörden verpflichten, solche Bemühungen sanktionsmindernd zu berücksichtigen. Zu einer wirksamen Durchsetzung des Kartellrechts gehört jedoch neben repressiven Massnahmen konsequenterweise auch die Prävention. Entsprechend müssen vorbeugende Massnahmen der Unternehmen seitens der Wettbewerbsbehörden unterstützt werden und im Rahmen der Sanktionsbemessung angemessen Berücksichtigung finden können. Eine Überbewertung der repressiven Elemente führt zu überschiessenden und insbesondere vermeidbaren staatlichen Eingriffen. Diese ziehen wiederum ein übervorsichtiges Verhalten der Unternehmen mit negativen ökonomischen Wirkungen nach sich (sog. «business chilling»).
Bisher diskutierte Verbesserungsansätze
Eine Sanktionsreduktion ist gemäss bundesrätlichem Vorschlag 2014 lediglich für diejenigen Compliance-Programme vorgesehen, die einen wirksamen Beitrag zur Durchsetzung des Kartellrechts leisten. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, entscheiden die Wettbewerbsbehörde bzw. die Gerichte.
Diese bestimmen auch die Höhe der Sanktionsreduktion im konkreten Einzelfall. Anzustreben sei eine angemessene Reduktion, die einen zusätzlichen Anreiz für die Vermeidung von Kartellrechtsverstössen setzt. Demgegenüber seien zu hohe Sanktionsminderungen zu vermeiden, da in diesem Falle Anreize geschaffen werden, die Programme lediglich darauf auszurichten, geeignete Nachweise für eine Sanktionsvermeidung zu produzieren.
Forderungen der Wirtschaft
Die Einführung strafmildernder Compliance-Programme ist ein wichtiger, positiver Schritt, der seitens der Wirtschaft begrüsst wird. Die Schweiz würde damit auch dem internationalen Trend folgen. So hat der deutsche Gesetzgeber erst kürzlich mit der am 19. Januar 2021 in Kraft getretenen 10. GWB-Novelle entsprechende Massnahmen in kartellrechtlichen Bussgeldverfahren als berücksichtigungsfähig anerkannt. Mit dieser Neuregelung folgt Deutschland der ebenfalls jüngst vollzogenen Änderung in der Praxis des amerikanischen Department of Justice (DOJ). Auch dieses hat im Sommer 2019 seine bis anhin ablehnende Haltung gegenüber einer Berücksichtigung von Antitrust-Compliance-Programmen ausdrücklich aufgegeben.
Strafmildernde Compliance-Programme basieren auf dem Verschuldensprinzip und sollen einen Anreiz für präventive Massnahmen gegen Verletzungen des Kartellrechts bieten. Gemäss bundesrätlichem Vorschlag können Unternehmen nur dann auf eine Sanktionsminderung hoffen, wenn sie ein wirksames und angemessenes Compliance-Programm vorweisen können. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, welche konkreten Anforderungen an die entsprechenden Massnahmen gestellt werden. Die Ausführungen in der damaligen Botschaft lassen klar definierte Compliance-Massstäbe vermissen. Auch wenn die Ausgestaltung effizienter Massnahmen zweifelsohne von den individuellen Eigenschaften eines Unternehmens abhängen, wären gewisse konkrete Mindestvorgaben im Sinne der Rechtssicherheit wünschenswert, wenn nicht sogar geboten. Vorbilder aus dem Ausland, wie diese Rechtssicherheit erreicht werden kann, sind jedenfalls vorhanden.
Umsetzung Motion Français (18.4282)
Die Motion fordert eine Präzisierung von Art. 5 KG, wonach die Erheblichkeit einer Abrede mittels quantitativer und qualitativer Kriterien nachgewiesen werden soll. Die Motion ist als Reaktion auf den sogenannten Gaba-Entscheid des Bundesgerichts zu verstehen (BGE 143 II 297). Mit diesem Urteil entschied das Bundesgericht den seit langer Zeit hängigen Streit im Zusammenhang mit Parallelimporten von Zahnpasta der Marke «Elmex» in die Schweiz. Das Gericht formulierte im Entscheid für Abreden nach Art. 5 Abs. 3 und 4 KG eine «per se»-Erheblichkeit. Solche Abreden seien nur dann nicht widerrechtlich, wenn sie aus Gründen der ökonomischen Effizienz gerechtfertigt werden können. Dieser Effizienzbeweis gelingt indessen lediglich unter strengen Voraussetzungen und nur selten.
Die im Gaba-Urteil statuierte «per se»-Erheblichkeit bestimmter Abreden hat bei den Unternehmen zu Rechtsunsicherheit geführt. Eine Präzisierung von Art. 5 KG, wonach die Zulässigkeit einer Abrede mittels bestimmter Kriterien beurteilt werden soll, könnte eine automatische Vermutung eines Kartellverstosses unterbinden und würde damit der bestehenden Verunsicherung entgegenwirken.
Um eine stringente Umsetzung der Motion Français zu gewährleisten, ist es aber sinnvoll, diese im Rahmen der laufenden KG-Revision zu realisieren.
Digitalisierung
Anknüpfungspunkte für eine Regulierung
Die Digitalisierung fungiert als Querschnittsthema über nahezu alle Wirtschaftsbereiche hinweg. Auch die Märkte werden massgeblich durch die digitalen Entwicklungen geprägt. Die hierdurch neu entstehenden Geschäftsmodelle und die damit einhergehenden innovativen Waren und Dienstleistungen stellen sowohl die Wettbewerbspolitik wie auch die kartellrechtlichen Behörden vor neue Herausforderungen.
Vor diesem Hintergrund sind die bestehenden auf die klassischen Märkte ausgerichteten Instrumente des Kartellrechts einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Besonderes Augenmerk gilt es dabei auf die nachstehenden Themen zu richten.
- Marktbeherrschungskriterien für digitale, zweiseitige Märkte: Das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung wird auch bei unentgeltlichen, zweiseitigen Märkten danach beurteilt, ob dem betreffenden Unternehmen ein vom Wettbewerb nicht hinreichend kontrollierter Verhaltensspielraum zur Verfügung steht. Die Bestimmung der Marktbeherrschung unterliegt bei zweiseitigen Märkten einer Reihe von Besonderheiten, welche von den klassischen Marktbeherrschungskriterien nur unzureichend abgebildet werden. Diese sollten daher an die Digitalökonomie angepasst werden. Gemäss wissenschaftlichen Erkenntnissen entfalten Netzwerkeffekte sowie Grössenvorteile eine tendenziell konzentrationsfördernde Wirkung, während das Vorliegen von Multi-Homing als konzentrationsmindernd qualifiziert wird. Die Aussagekraft von Marktanteilen ist hingegen aufgrund der hohen (Innovations-)Dynamik in der Digitalökonomie eingeschränkt.
- Algorithmische Kollusion: Das Schweizer Wettbewerbsrecht enthält keine besonderen Vorschriften, die sich explizit mit dem Einsatz von Algorithmen auseinandersetzen. Es stellt sich daher die Frage, ob die bestehenden Regelungen im Kartellgesetz ausreichen, um dem neuartigen Phänomen zu begegnen. Kartellrechtliche Relevanz erlangen Algorithmen dann, wenn sie von Unternehmen dazu eingesetzt werden, um Wettbewerbsparameter mit anderen Unternehmen zu koordinieren. Dabei erweist sich insbesondere die Verhaltenskoordination, die auf Algorithmen ausgelagert wird und somit ausschliesslich auf der künstlichen Intelligenz von Maschinen beruht, als problematisch. Es gilt zu evaluieren, ob es einer gesetzlichen Ausweitung des geltenden Kartelltatbestands bedarf oder bereits eine digitale Interpretation des Abredebegriffs ausreichen würde.
- Datenzugang: Daten gelten als zentraler Inputfaktor vieler Wertschöpfungsprozesse. Die Bearbeitung von (Nutzer-)Daten ermöglicht es Unternehmen, die Qualität ihrer eigenen Dienste zu optimieren, neue Geschäftsfelder zu erschliessen, zielorientierte Werbung zu schalten oder auch Preisdifferenzierungen vorzunehmen. Es liegt daher nahe, dass die Kontrolle über bestimmte Daten(-sätze) bei der Beurteilung einer marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens miteinfliessen muss. Auch können Daten als abrederelevante Wettbewerbsparameter und bei der Beurteilung der Erheblichkeit von Wettbewerbsbeschränkungen eine entscheidende Rolle spielen.
Nächste Schritte
Die fortschreitende Digitalisierung stellt das Kartellrecht vor Herausforderungen. Auch wenn einige Anknüpfungspunkte für eine Regulierung im Kartellgesetz bestehen, sind die diesbezüglichen Konzepte noch nicht genügend ausgereift, um im Rahmen der laufenden Revision konkrete Bestimmungen formulieren zu können. Trotzdem oder gerade deshalb, ist economiesuisse bestrebt, die Thematik und dabei insbesondere die diesbezüglichen internationalen Entwicklungen eng zu verfolgen und hieraus belastbare Erkenntnisse für künftige gesetzliche Anpassungen zu erarbeiten. Angesichts der hohen Dynamik digitaler Märkte und der damit einhergehenden unternehmerischen Risiken aber auch Chancen ist es im Sinne der Rechtssicherheit unabdingbar, möglichst rasch zeitgemässe und verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Dabei gilt es auch frühzeitig, die Politik für die vorbeschriebenen Themen zu sensibilisieren und ein Bewusstsein für die digitalen Herausforderungen zu schaffen.