Unabhängigkeit der SNB verteidigen – Zum Wohl der Schweiz!
- Introduction Executive summary | Positions of economiesuisse
- Chapter 1 Die Unabhängigkeit der SNB unter Beschuss
- Chapter 2 Wozu braucht es überhaupt eine unabhängige Nationalbank?
- Chapter 3 Die Angriffe auf die Unabhängigkeit der SNB
- Chapter 4 Die Unabhängigkeit der SNB muss geschützt werden
Wozu braucht es überhaupt eine unabhängige Nationalbank?
Schrittweise zur Stabilität: Der Aufstieg der Zentralbankunabhängigkeit
Die Sichtweise, dass eine Notenbank möglichst unabhängig von der Politik sein muss, ist relativ neu. Noch während der 1960er- und 1970er-Jahre war die Unabhängigkeit einer Zentralbank ein weitgehend unbekanntes Konzept. Die Geldpolitik richtete sich auch und stark an den Wünschen der Politik aus. So verfolgten Zentralbanken neben der Preisstabilität weitere wirtschaftliche Zielgrössen, und sie setzten die Geldpolitik zur Stimulierung der Wirtschaft ein, drohte diese zu schwächeln. Gerade bei Wiederwahlen bot sich die Geldpolitik an: Um während der Wahlen eine gute Wirtschaftsentwicklung vorweisen zu können, sollte die Zentralbank vorgängig die Zinsen senken. Die tieferen Zinsen kurbeln die Wirtschaft an und verbessern die Finanzierungsbedingungen für zusätzliche Staatsausgaben. Dies erhöht die Wiederwahlchancen der Regierung. Allerdings steigen verzögert auch die Preise, so dass der Stimulus nur vorübergehend wirkt.
In den 1970er-Jahren aber trat ein neues Phänomen auf: hartnäckig hohe Inflationsraten bei gleichzeitig schwachem Wachstum. Die Stagflation – eine Wortschöpfung aus Inflation und Stagnation – schmälerte die Kaufkraft, bremste Investitionen und belastete die Produktivitätsentwicklung. Der geldpolitische Stimulus verpuffte wirkungslos, nur die Preise stiegen. Es setzte eine breite wissenschaftliche Debatte ein, woraus sich ein klarer Konsens herauskristallisierte. Die Geldpolitik soll sich auf stabile Preise konzentrieren.
Die gierige Politik ist keine Erfindung von Akademikern – Erdogan und die Zentralbänker
Die Wichtigkeit der Zentralbankunabhängigkeit wurde erst kürzlich in der Türkei demonstriert, wo sich deren Präsident, Recep Tayip Erdogan, stark in die Geldpolitik einmischte. In der Türkei lagen die Inflationsraten schon länger auf hohem Niveau und schwankten seit 2010 zwischen zehn und 15 Prozent. Entgegen der empirisch gut belegten ökonomischen Theorie plädierte Erdogan für Zinssenkungen als Mittel gegen die Inflation. Der damalige Zentralbankdirektor Murat Cetinkaya war von «Erdoganomics» allerdings nicht überzeugt. Bevor Cetinkaya aber die Zinsen anheben konnte, wurde er 2019 von Erdogan entlassen. Auch den nächsten Direktor entliess Erdogan im November 2020, als dieser die Zinsen ebenfalls nicht senken wollte. Der Ersatz blieb nur gerade bis im März 2021 im Amt, bis ihn dasselbe Schicksal ereilte. Der Nachfolger führte mehrere Zinssenkungen durch und reduzierte die Zinsen während 2021 von 19 auf 14 Prozent. Die Quittung auf den Angriff der Unabhängigkeit folgte postwendend. Abbildung 3 zeigt die Explosion der Inflation während 2022. Die OECD schätzte sie auf 72 Prozent, wovon sie sich seither nicht erholt hat.
Die Neigung der Politik, sich der Geldpolitik zu bedienen, lässt sich nur aushebeln, indem der Zentralbank Unabhängigkeit gewährt wird. Diese Praxis etablierte sich zunehmend während der 1990er-Jahre. Immer mehr Staaten führten Reformen durch, welche ihre Zentralbanken unabhängiger machten. Auch die SNB wurde um die Jahrtausendwende noch unabhängiger von der Politik. Das Verdikt dieser Reformen ist klar: Mit zunehmender Unabhängigkeit konnten hohe Inflationsraten besiegt werden. Die oberen Grafik in Abbildung 4 zeigt die Entwicklung der durchschnittlichen Zentralbankunabhängigkeit (ZBU) und der durchschnittlichen Inflation in den heutigen OECD-Ländern. Über die Zeit nahm die Unabhängigkeit der OECD-Zentralbanken im Schnitt zu, während die durchschnittliche Inflationsrate kontinuierlich sank.
Abbildung 4: Höhere Unabhängigkeit führt zu stabileren Preisen
In der unteren Grafik in Abbildung 4 wird die durchschnittliche Inflation in den OECD-Ländern während verschiedener Zentralbankregimes abgebildet. Ein Zentralbankregime beschreibt einen Zeitraum, währenddessen eine Zentralbank eine unveränderte Unabhängigkeit ausweist. Die Grafik zeigt, dass unabhängigere OECD-Zentralbanken klar tiefere Inflationsraten erzielen konnten als Länder, in welchen die Politik grösseren Einfluss auf geldpolitische Entscheide ausübt. Natürlich spielen hier auch Sonderereignisse eine Rolle: So erlebten ehemals sozialistische Länder (rote Punkte) zu Beginn ihres Übergangs zur Marktwirtschaft hohe Inflationsraten, gewährten mit anderen Reformen ihren Zentralbanken allerdings gleichzeitig höhere Unabhängigkeit. Ihre Planwirtschaften hatten sozusagen Inflation angestaut – diese manifestierte sich aber in Güterknappheit, erzwungenen Ersparnissen und hoher Staatsverschuldung. Bevor die Zentralbanken ihre gewonnene Unabhängigkeit ausspielen konnten, musste die Inflations-Hypothek beglichen werden. Die Türkei (orange Punkte) stellt eine weitere Ausnahme unter den OECD-Ländern dar. Obschon die Unabhängigkeit ihrer Zentralbank von Gesetzes wegen mittelmässig bis hoch ist, weist sie durchgehend hohe Inflationsraten auf. De facto ist die Abhängigkeit der türkischen Geldpolitik aber höher, da die Gesetze von der Politik umgangen werden können, wie das vorherige Beispiel der Einflussnahme durch Erdogan zeigt. Eine Bereinigung der Daten würde den Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und tieferer Inflation daher sogar noch deutlicher erscheinen lassen.
Weswegen ist Inflation schlecht?
Inflation ist eine ungerechte Sache. Sie verändert die Einkommens- und Vermögensverteilung in einem Land und schafft klare Gewinner und Verlierer. Auf tiefem Niveau sind diese Veränderungen subtil, werden aber besonders sichtbar, wenn die Inflationsraten ansteigen und lange anhalten. So gehören etwa Personen ohne stabile Einkommen zu den Verlierern: Pensionierte in der zuvor erwähnten Türkei müssen beispielsweise einen Weg finden, mit ihrer Rente einen Warenkorb zu finanzieren, dessen Preis sich in einem Jahr fast verdoppelt hat. Die Inflation fordert aber nicht nur einen individuellen Tribut, sondern betrifft auch die Gesamtwirtschaft. In der Schweiz haben wir uns an tiefe Inflationsraten gewöhnt und aus den Augen verloren, welche Gefahr von höheren Inflationsraten ausgeht.
In der ökonomischen Theorie werden einige Kostenpunkte der Inflation identifiziert. So gelten etwa der benötigte Zeitaufwand zur Bestimmung des eigenen Bargeldbedarfs oder die öfter notwendigen Preisanpassungen in Restaurants oder Geschäften als Kosten von Preissteigerungen. Solange die Inflation nicht zu hoch ist, sind auch diese Kosten eher tief. Im digitalen Zeitalter, in dem Bankkonti und Preise per Mausklick angepasst werden können, verlieren sie zusätzlich an Bedeutung. Trotzdem sind Konsumenten und Unternehmen steigender Inflation gegenüber negativ eingestellt, wofür es andere Gründe geben muss.
Steigende Preise begünstigen Kreditnehmer und benachteiligen die Sparer. Wenn die Preise steigen, kann mit dem Ersparten künftig weniger gekauft werden. Auf der anderen Seite können sich Schuldner, zu welchen auch der Staat gehört, mit Inflation entschulden. Aber steigende Preise verunsichern auch. Sie verändern Preisverhältnisse, welche tief im Bewusstsein eingraviert sind. Wenn zum Beispiel Brot nicht mehr doppelt, sondern dreimal so teuer ist wie Milch, muss der eigene Einkaufskorb neu überdacht werden. Bei langfristigen Projekten leidet zudem die Planungssicherheit, wenn künftige Preise schlechter abschätzbar sind. Wenn das benötigte Material in einem Jahr doppelt so viel kosten könnte, ist die Rendite stark risikobehaftet. Entsprechend sichern sich die Vertragsparteien häufiger juristisch ab. Schliesslich schlägt die Inflation auch überproportional auf die Einkaufsstimmung. Ein Anstieg der Inflationsrate von null auf ein Prozent hat etwa denselben Effekt auf die Konsumentenstimmung wie die Zunahme der Arbeitslosigkeit um einen Prozentpunkt. Dieser Effekt ist beträchtlich, wenn man bedenkt, welche Unsicherheit höhere Arbeitslosigkeit bei den Arbeitnehmern verursacht und wie sie die finanzielle Situation der neu Arbeitslosen über den Haufen wirft.