Ist die 4-Tage-Woche ein Wundermittel?
Die 4-Tage-Woche wird gerade in Deutschland, aber auch in der Schweiz immer beliebter. Dabei werden meist grosse Produktivitätsgewinne pro Stunde erwartet, die dafür sorgen sollen, dass sich weniger Arbeitsstunden doppelt lohnen. Doch wie oft im Leben gilt: Man kann leider nicht «s’ Füüferli und s’ Weggli ha».
Seit den 1990er-Jahren ist der Anteil der Teilzeitbeschäftigten auf dem Arbeitsmarkt stark angestiegen. Gerade bei den Männern wird ein reduziertes Pensum immer beliebter, während der Teilzeitanteil bei den Frauen in den letzten Jahren auf hohem Niveau stabil geblieben ist. 22,5 Prozent aller Arbeitnehmenden arbeiteten gemäss Schweizerischer Arbeitskräfteerhebung des Bundesamts für Statistik 2021 in einem Pensum von 50 bis 89 Prozent.
In diesem Zusammenhang wird immer häufiger von einer allgemeinen 4-Tage-Arbeitswoche gesprochen. Das Thema erfreut sich in Deutschland und zunehmend auch in der Schweiz grosser Beliebtheit. Mit einer 4-Tage-Woche soll die Produktivität pro Stunde erhöht werden und eine bessere Work-Life-Balance entstehen.
Produktivität pro Stunde lässt sich nicht beliebig steigern
Lohn und Produktivität stehen in einem engen Zusammenhang: Wenn die Produktivität pro Stunde steigt, dann sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für ein Unternehmen wertvoller. Entsprechend kann die Arbeit auch besser entschädigt werden: Entweder erhalten die Arbeitnehmenden mehr Lohn pro Stunde oder aber sie erhalten mehr Freizeit bei gleichem Monatslohn – oder eine Mischform etwas mehr von beidem, was in der Schweiz zu beobachten ist. Die positive Produktivitätsentwicklung der letzten Jahrzehnte führte zu mehr Freizeit und mehr Lohn. Die Abbildung zeigt denn auch deutlich: Zwar ist die Jahresarbeitszeit in der Schweiz im internationalen Vergleich weiterhin hoch, doch auch hierzulande ist ein stetiger, langsamer Abwärtstrend feststellbar, genau wie bei unseren Nachbarn.
Was würde nun passieren, wenn man – bei gleichem Lohn – die Arbeitszeit um einen Tag pro Woche verkürzt? Steigt dann die Produktivität um 20 Prozent, so dass dies den um 20 Prozent höheren Stundenlohn rechtfertigen würde? Die Antwort ist einfach: In der Breite ist das unmöglich. Die Produktivität steigt nicht von heute auf morgen radikal, sondern meist in kleinen, relativ stetigen Schritten. Frankreich hat mit der 35-Stunden-Woche (und weiteren Vorschriften) gezeigt, wohin eine solche dirigistisch verordnete Politik führt: Die Wirtschaft entwickelt sich schlecht und die Löhne sind tief. So liegt beispielsweise der Mindestlohn seit dem 1. Mai 2022 in Frankreich bei 1’646 Euro im Monat (brutto) bzw. 1’302 Euro (netto). Eine Fachkraft im Schweizer Gastgewerbe verdient demgegenüber mindestens 4’203 Franken brutto pro Monat. Der Minimumlohn für Personen ohne Ausbildung beläuft sich immerhin auf 3'477 Franken brutto.
Gerade in Dienstleistungsbranchen, beispielsweise im Verkauf oder in einem Haarsalon, kann die Zeit pro Verkaufsgespräch oder pro Haarschnitt kaum oder gar nicht verringert werden. Entsprechend führt eine Reduktion der Arbeitszeit unweigerlich zu einer Reduktion der gesamten Produktivität ohne grosse Produktivitätsgewinne pro Stunde. Doch auch in Branchen, die für Produktivitätsgewinne bekannt sind, ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine Reduktion der Arbeitszeit zu einer massiven Erhöhung der Produktivität pro Arbeitsstunde führt. In IT-Firmen ist die Reduktion der Arbeitszeit um 20 Prozent eher ein Mittel, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und weniger, um die Produktivität zu steigern.
Attraktive Arbeitsbedingungen sind entscheidend
Gerade im Bereich der Software-Entwicklung haben Firmen oftmals Mühe, genügend Spezialisten zu finden und entsprechend haben sie einen starken Anreiz, als Arbeitgeber besonders attraktiv zu erscheinen. Da die Saläre in der Branche tendenziell hoch sind, mögen tolle Lohnaussichten allein nicht zwingend genügend neue Mitarbeitende anlocken. Stattdessen mehr Freizeit zu bieten, kann daher gefragt sein.
Auch in der Gastronomie sind aktuell viele Stellen unbesetzt. Und auch hier versuchen einzelne Arbeitgeber, mit der 4-Tage-Woche attraktiver zu werden. Schliesslich braucht es aber mehr Personen für die gleiche Arbeit. Die Arbeitszeitverkürzung dient so vor allem als Vorteil im Konkurrenzkampf um knappe Arbeitskräfte.
Wenn nun viele Unternehmen die 4-Tage-Woche einführen, verstärkt dies also nur den Fachkräftemangel. Die 4-Tage-Woche mag die Produktivität pro Stunde nicht im gleichen Umfang zu erhöhen. Allerdings steigen Zufriedenheit und Gesundheit der Arbeitnehmenden tendenziell an. Aus der daraus resultierenden Reduktion von Krankheitstagen sowie einer allenfalls niedrigeren Personalfluktuation können positive Effekte entstehen, deren Grösse von den individuellen Begebenheiten abhängen. Andere wiederum schätzen eine flexiblere Zeiteinteilung, die durch eine 4-Tage-Woche beschränkt würde, und die 4-Tage-Woche kann für Arbeitnehmende durch die höhere Arbeitsintensität auch eine Belastung sein. Entsprechend gilt es, keine starren Regeln für alle einzuführen, sondern den Betrieben und einzelnen Arbeitnehmenden die für sie sinnvolle flexible Lösung zu ermöglichen.