Zur Er­rei­chung der Kli­ma­zie­le müs­sen wir die Wei­chen jetzt rich­tig stel­len

Vor kur­zem führ­te ich ein Ge­spräch mit einer Po­li­ti­ke­rin, die mir eine prä­gnan­te Frage stell­te: "Die Wirt­schaft redet immer davon, Rah­men­be­din­gun­gen für Netto-Null zu schaf­fen – was wäre denn die wich­tigs­te Mass­nah­me, die die Po­li­tik er­grei­fen kann?" In­stink­tiv kam mir un­se­re lang­jäh­ri­ge For­de­rung nach einem ad­äqua­ten Preis für CO2 in den Sinn.

Die Wirt­schaft steht zu die­ser For­de­rung, aber wir dis­ku­tie­ren sie auch jedes Jahr neu, weil die Schweiz be­reits heute schon einen der höchs­ten CO2-Prei­se welt­weit hat. Eine wei­te­re Er­hö­hung ohne in­ter­na­tio­na­le Ko­or­di­na­ti­on könn­te zu ge­fähr­li­chen Ver­drän­gungs­ef­fek­ten füh­ren – Stich­wor­te dazu sind De­indus­tria­li­sie­rung und Car­bon Le­a­ka­ge. Es ist zwar be­grüs­sens­wert, dass die Schweiz für den Kli­ma­schutz auf markt­wirt­schaft­li­che In­stru­men­te wie Prei­se setzt. Wenn sonst fast kein Land dabei mit­macht, wird es aber kom­pli­ziert. Eine grif­fi­ge in­ter­na­tio­na­le Ko­or­di­na­ti­on markt­wirt­schaft­li­cher Mass­nah­men ist mo­men­tan in wei­ter Ferne, ob­wohl be­reits ein in­ter­na­tio­na­ler CO2-Preis von be­schei­de­nen 50 Dol­lar pro Tonne ein kli­ma­po­li­ti­scher «game chan­ger» wäre. Viele an­de­re dis­ku­tier­te Mass­nah­men sind ent­we­der Sym­bol­po­li­tik oder po­li­tisch kaum mehr­heits­fä­hig.

Wenn ein glo­ba­ler CO2-Preis un­rea­lis­tisch ist, was ist denn die wich­tigs­te For­de­rung der Wirt­schaft für Netto-Null-Rah­men­be­din­gun­gen? Ich glau­be, sie liegt in der Ver­sor­gungs­si­cher­heit mit sau­be­rem Strom.

Die Schweiz ver­braucht jähr­lich weit über 200 Te­ra­watt­stun­den En­er­gie, davon etwa 60 Te­ra­watt­stun­den in Form von Strom. Der Rest wird vor allem durch fos­si­le En­er­gi­en wie Treib­stof­fe und Heiz­öl ge­deckt. Bis 2050 mü­ssen wir für Netto-Null fast alles elek­tri­fi­zie­ren. Das be­deu­tet ei­ner­seits, dass wir einen viel hö­he­ren Strom­ver­brauch haben wer­den – 80-90 Te­ra­watt­stun­den laut den meis­ten Stu­di­en, laut hö­he­ren Schät­zun­gen sogar deut­lich über 100 Te­ra­watt­stun­den. An­de­rer­seits wird unser Ge­samt­ener­gie­ver­brauch sin­ken, weil Strom viel ef­fi­zi­en­ter ist als fos­si­le En­er­gi­en. Wäh­rend zum Bei­spiel ein klas­si­sches Ver­bren­ner­au­to im Schnitt nur etwa 20 Pro­zent der En­er­gie in die Fort­be­we­gung um­setzt, ist die­ser Wert bei Elek­tro­au­tos bei fast 80 Pro­zent.

Die Elek­tri­fi­zie­rung der Schweiz ist je­doch eine Her­ku­les­auf­ga­be. Be­rück­sich­ti­gen wir, wel­che Kraft­wer­ke ihre Le­bens­dau­er bis 2050 übe­rschre­iten, müs­sen wir un­se­re Strom­pro­duk­ti­on bis 2050 mehr als ver­dop­peln. Der Auf­bau der heu­ti­gen Strom­pro­duk­ti­on dau­er­te fast ein Jahr­hun­dert. Das glei­che mü­ssen wir nun in den nächs­ten 25 Jah­ren noch­mals schaf­fen – und das zu einer Zeit, in der das Bauen immer schwie­ri­ger wird. Ein­spru­̈che häu­fen sich und die Po­li­tik ist blo­ckier­ter ist als da­mals. Es gibt das Bon­mot: „Die fün­fte Lan­des­spra­che der Schweiz ist die Ein­spra­che“ – und das hat einen wah­ren Kern.

Ich bin, ehr­lich ge­sagt nicht davon über­zeugt, dass wir auf einem guten Weg sind. Das Strom­ge­setz, über das wir am 9. Juni 2024 ab­ge­stimmt haben, ist ein guter ers­ter Schritt – so­zu­sa­gen der Frü­hling­spu­tz in der En­er­gie­po­li­tik. Aber die­ser Schritt reicht noch lange nicht. Be­son­ders be­sorg­nis­er­re­gend ist die Strom­ver­sor­gung im Win­ter. Die Eu­pho­rie für Dach­so­lar­an­la­gen darf nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass wir ein gros­ses Pro­blem mit der Win­ter­ver­sor­gung haben. Und win­ter­wirk­sa­me­re er­neu­er­ba­re Lö­sun­gen wie Al­pen­so­lar oder Wind ge­nies­sen noch zu wenig Rüc­kha­lt in der Be­völ­ke­rung – be­son­ders dort, wo sie ef­fek­tiv auf­ge­baut wer­den könn­ten.

Ein wei­te­res gros­ses Pro­blem ist, dass wir immer noch kein Strom­ab­kom­men mit der EU haben und mit wei­te­ren Ver­zö­ge­run­gen ge­rech­net wer­den muss. Man kann von der EU hal­ten, was man will, aber nie­mand, der sich im En­er­gie­be­reich aus­kennt, wird in Frage stel­len, dass sich das Strom­pro­blem bes­ser ge­mein­sam lösen lässt als al­lei­ne. Eine Stu­die, die wir mit der ETH Zu­̈rich durch­ge­füh­rt haben, zeigt: Es geht auch ohne Strom­ab­kom­men, kos­tet aber 50 Mil­li­ar­den Fran­ken mehr bis 2050. Das sind pro Haus­halt am Ende um die 500 Fran­ken – pro Jahr.

Uns be­schäf­tigt auch die Frage, wie sich der Preis für Win­ter­strom in den nächs­ten Jah­ren ent­wi­ckelt. Die Stu­die der ETH pro­gnos­ti­ziert 3 bis 4 mal hö­he­re Strom­prei­se im Win­ter 2050. Das ist zu­ge­ge­be­ner­mas­sen heute noch etwas Kaf­fee­satz­le­sen. Aber wenn wir Pech haben, wird in 30 Jah­ren die Dis­kus­si­on über die Strom­rech­nung so hit­zig ge­füh­rt wie heute die­je­ni­ge über die Kran­ken­kas­sen­prä­mi­en.

Ohne ge­nü­gend Strom kön­nen wir die Dekar­bo­ni­sie­rung je­doch ver­ges­sen. Ef­fi­zi­enz und Spa­ren sind schön, aber ein Trop­fen auf den heis­sen Stein ge­gen­über dem Strom­hun­ger mo­der­ner, kli­ma­freund­li­cher Tech­no­lo­gi­en wie Elek­tro­au­tos und Wär­me­pum­pen.

Was steht uns denn im Weg zu einer si­che­ren Strom­ver­sor­gung? Vor allem wir selbst. Das Thema ist sehr emo­tio­nal auf­ge­la­den, mit so vie­len roten Li­ni­en, dass sie sich schon lange übe­rschne­iden. Die Schweiz will je­der­zeit Strom, selbst­ver­sor­gend ohne Eu­ro­pa, gün­st­ig, ohne Atom­kraft, si­cher nicht mit So­lar­an­la­gen in den Ber­gen, auf kei­nen Fall Wind – viel­leicht auf den Dä­chern, aber auch nur ohne Zwang. Man braucht kein En­er­gie­ex­per­te zu sein, um zu er­ken­nen, dass das zu viele Be­din­gun­gen sind.

Be­son­ders schwie­rig ge­stal­tet sich die Dis­kus­si­on um die Kern­kraft: Für die einen ist sie ein Schreck­ge­spenst ver­gan­ge­ner Zei­ten, das von den Er­neu­er­ba­ren ab­lenkt. Für die an­de­ren ist sie eine fahr­läs­sig ver­nach­läs­sig­te, kli­ma­neu­tra­le und preis­wer­te Tech­no­lo­gie. Aus un­se­rer Sicht ist klar: Ir­gend­wo muss man Ab­stri­che ma­chen, und was die beste En­er­gie­pro­duk­ti­on ist, soll­te kein Po­li­ti­ker oder Ver­band ent­schei­den, son­dern sich in einem fai­ren Wett­be­werb auf dem Markt durch­set­zen.

In­so­fern möch­te ich die Frage der Na­tio­nal­rä­tin nun so be­ant­wor­ten: Was wir für Netto-Null brau­chen, ist ge­nü­gend kli­ma­neu­tra­ler Strom. Die wich­tigs­te Mass­nah­me dabei ist, dass die Po­li­tik ihre rote Li­ni­en streicht. Dann wären näm­lich die gros­sen und wich­ti­gen Schrit­te mög­lich, näm­lich:

1) Ein Strom­ab­kom­men mit der EU;

2) Ein de­zi­dier­ter Aus­bau der Er­neu­er­ba­ren in der kur­zen und mitt­le­ren Frist; und

3) Die Pru­̈fu­ng von neuen Gross­kraft­wer­ken, ins­be­son­de­re Kern­kraft­wer­ken, auf lange Frist.

Die Her­aus­for­de­rung ist gross, doch sie ist nicht un­lös­bar. Die Zu­kunft der Schweiz hängt von un­se­rem Mut ab, alte Dog­men zu hin­ter­fra­gen und neue Wege zu be­schrei­ten. Die Ver­sor­gungs­si­cher­heit ist der Schlü­ssel, der das Tor zu einer kli­ma­neu­tra­len und wohl­ha­ben­den Zu­kunft öff­nen kann. Wenn wir jetzt die rich­ti­gen Ent­schei­dun­gen tref­fen, kön­nen wir si­cher­stel­len, dass die Schweiz nicht nur ihre Kli­ma­zie­le er­reicht, son­dern auch ein Vor­bild für an­de­re Na­tio­nen wird.

Die Erst­pu­bli­ka­ti­on die­ses Tex­tes er­schien in der Tages-An­zei­ger Bei­la­ge «Sup­p­ly Chain & Nach­hal­tig­keit» vom 26. Sep­tem­ber 2024.