Fehlgeleitete Diskussion über Schulnoten
- Introduction Executive summary | Positions of economiesuisse
- Chapter 1 Die Stellvertreterdebatte Schulnoten: Worum geht es wirklich?
- Chapter 2 Informationsbedürfnisse der Ausbildungsbetriebe berücksichtigen
- Chapter 3 Schulnoten reichen Unternehmen für die Erstbeurteilung oftmals nicht aus
- Chapter 4 Vergleichbare, leistungsorientierte Beurteilung an der Schnittstelle zur Sekundarstufe II ist zentral
- Chapter 5 Es ist irrelevant, ob die Beurteilung mit oder ohne Noten erfolgt
Die Stellvertreterdebatte Schulnoten: Worum geht es wirklich?
Über das Thema Schulnoten wird in der Schweiz heftig und oftmals dogmatisch diskutiert. Für die einen sind Ziffernoten in den Schulzeugnissen sakrosankt. Für sie wäre eine Schule ohne Noten gleichzusetzen mit einem Verzicht auf eine gesunde Leistungskultur. Für die anderen sind Schulnoten ein Ärgernis, das die Kinder in ihrer Entwicklung hemmt.
Fehlgeleitete Diskussion um Noten
Es stellt sich aber die Frage, wieso überhaupt so viel Aufregung um das Thema Schulnoten herrscht. Denn das Scheinwerferlicht fällt damit auf das Falsche. In diesem Papier wird der Nebel dieser Stellvertreterdiskussion gelichtet und das Scheinwerferlicht auf die eigentlich relevanten Fragen gelenkt: Wie wird bei den Übertritten in eine nächste Schulstufe selektioniert? Braucht es Prüfungen und falls ja, welche Art von Prüfungen? Und wie können die Kinder während der gesamten Schullaufbahn optimal gefördert werden?
Aus Sicht der Wirtschaft ist dabei insbesondere von Interesse, welche Art der Information an der Schnittstelle von der Sekundarschule in eine berufliche Grundbildung bzw. ins Gymnasium relevant ist. Oder im Fachjargon: Welche Informationen werden benötigt, um den Selektionsentscheid von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II optimal vornehmen zu können?
Unterschiedliche Handhabung in den Kantonen
In der gesamten Diskussion darf nicht vergessen werden, dass Schulnoten nur eine der vielen Messarten sind, wie Leistungen der Schülerinnen und Schüler beurteilt werden können. Nicht überall wird dementsprechend deren Leistung auf die gleiche Art beurteilt. Gewisse Kantone halten im Gesetz fest, dass an Schulen Noten vergeben werden müssen. So hat zum Beispiel der Kantonsrat im Kanton Zürich im Juni 2023 beschlossen, dass in der Primarschule ab der 2. Klasse zwingend Noten gegeben werden müssen. In Zürich darf somit nicht ausschliesslich auf alternative Bewertungssysteme gesetzt werden. In anderen Kantonen steht es Schulen teilweise frei, auf Noten zu verzichten. Im Kanton Basel-Stadt werden Zeugnisnoten erst ab der fünften Klasse vergeben; davor wird einzig ein Lernbericht verfasst, der mit den Eltern besprochen wird. Die Stadt Luzern geht nochmals einen anderen Weg: Sie verzichtet in der Primarschule auf Prüfungsnoten, vergibt aber weiterhin Zeugnisnoten.
Keine Förderung ohne Beurteilung
Während um die Sinnhaftigkeit von Schulnoten debattiert wird, ist es absolut unbestritten, dass die Leistung der Schülerinnen und Schüler beurteilt werden muss. Die Beurteilung ist ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil der Förderung. Nur wenn die Lehrpersonen wissen, wo die Schülerinnen und Schüler stehen, können sie sie wirklich fördern. Dementsprechend beurteilen Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler tagtäglich in unterschiedlichen Dimensionen bewusst oder unbewusst. Es gibt dabei unterschiedliche Formen der Beurteilung:
- Die formative Beurteilung dient der Unterstützung des Lernprozesses. Die Rückmeldungen der Lehrpersonen sollen dabei helfen, das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu lenken und sie optimal zu fördern.
- Die summative Beurteilung beurteilt die Leistung der Schülerin oder des Schülers zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dabei wird also zum Beispiel der Leistungsstand am Ende eines Semesters oder am Ende einer Lerneinheit gemessen. Es wird Bilanz über das bisher Erreichte gezogen. Die Beurteilung ist rückwärtsgewandt.
- Die prognostische Beurteilung ist vorwärtsgewandt. Darin wird eine Prognose erstellt, welches der beste Weg für die Schülerin oder den Schüler ist. Besonders relevant ist die prognostische Beurteilung beim Übertritt in eine nächste Stufe, also beispielsweise beim Übertritt in die Oberstufe (Sekundarstufe I) oder in eine berufliche Grundbildung oder ein Gymnasium (Sekundarstufe II). Hier muss nicht nur der momentane Stand beurteilt werden, sondern auch das weitere Entwicklungspotenzial.
All diese drei Formen der Beurteilung können mit unterschiedlichen Messinstrumenten erfolgen, das heisst nicht nur mit Noten. Die summative Bewertung erfolgt in den Schweizer Schulen, ausser im Kindergarten und teilweise in den untersten Klassen der Primarschule, mit Ziffernoten. Sie dienen einerseits der Selektion für die nächste Schulstufe. Andererseits sind sie ein Mittel, um das Informationsbedürfnis über die schulische Leistung von Eltern, zukünftigen Ausbildungsbetrieben, den Schülerinnen und Schülern usw. abzudecken. Zudem können Noten anspornen, gleich gut oder besser zu sein als die Klassenkameraden. Diesen Vorteilen steht hingegen unter anderem der Nachteil gegenüber, dass die Lernmotivation von schlechter beurteilten Kindern abnehmen kann.
Die Schulen leben in einem Dilemma zwischen der individuellen Förderung und einer Selektion, basierend auf vergleichbaren Kriterien. Ersteres bedarf einer formativen Beurteilung. Sie wird durch summative Bewertungen, beispielsweise durch Noten, teilweise gehemmt, Zweiteres bedingt ebendiese. Dieses Dilemma zeigt die Komplexität der täglichen Arbeit an den Schulen: Lehrpersonen müssen in Bezug auf die Beurteilung oftmals gleichzeitig verschiedenen Ansprüchen genügen: Einerseits möchten sie jede Schülerin und jeden Schüler individuell fördern und möglichst weit bringen. Andererseits müssen sie insbesondere vor den Stufenübertritten eine Beurteilung vornehmen, die eine faire Selektion ermöglicht. Es gilt einen geeigneten Weg zu finden, um beiden Ansprüchen gerecht zu werden.