Fokus Inflation XII: «Forward Guidance» – eine Medizin mit Nebenwirkungen
Wir erleben derzeit eine geldpolitische Zeitenwende: Das Konzept der «Forward Guidance» hat sich als Schönwetterstrategie für tiefe Inflationsraten herausgestellt. Zu offensichtlich zeigen sich derzeit gravierende Nebenwirkungen einer Geldpolitik, die über Kommunikation die Marktteilnehmer steuern will. Zum einen werden diese von den Verlautbarungen der Zentralbanken abhängig und entwickeln Geschäftsmodelle, die ansonsten nicht überlebensfähig sind. Zum anderen können Zentralbanken Fehleinschätzungen nicht rasch genug korrigieren, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu riskieren.
«Forward Guidance» bezeichnet die Kommunikationspolitik einer Zentralbank, die den Markt nicht nur über die aktuelle, sondern auch über die künftige geldpolitische Absicht transparent informiert. Dadurch sollen die Erwartungen der Banken, Finanzmarktteilnehmer, Unternehmen und Konsumenten über die künftige Zinsentwicklung beeinflusst werden. Beabsichtigt wird durch Forward Guidance, die langfristigen Zinsen zu senken, die für Konsum und Investitionen der Privaten besonders relevant sind. Dies soll sich konjunkturell auszahlen, weil mehr investiert und mehr ausgegeben wird. Das US-amerikanische Federal Reserve System (FED) verwendet dieses Konzept seit den frühen 2000er-Jahren, die Europäische Zentralbank (EZB) seit 2013. Besonders in Zusammenhang mit der Geldpolitik nach der Finanzmarktkrise, als die Zinsen in den Nullbereich sanken und der Aufkauf von Anleihen («Quantitative Easing») Zinssenkungen als Instrument ablöste, scheint Forward Guidance dazu beigetragen zu haben, eine Deflation in den USA zu verhindern. Oder anders ausgedrückt: Bei kurzfristigen Zinsen in der Höhe von zwei bis drei Prozent ist Forward Guidance weniger von Belang, können doch die langfristigen Zinsen bei Bedarf durch das traditionelle Instrument einer Senkung der kurzfristigen Zinsen beeinflusst werden.
So einleuchtend das Konzept auf den ersten Blick erscheinen mag, Forward Guidance hat mindestens zwei erhebliche negative Nebenwirkungen. Erstens konnten es sich die Finanzmärkte in den vergangenen Jahren bequem machen: Die Forward Guidance-Politik des FED und der EZB ermöglichte es ihnen, eine der entscheidenden Aufgaben, die Einschätzung der künftigen Entwicklungen in Bezug auf den Zinssatz, an die Zentralbank abzutreten. Die Marktteilnehmer konnten darauf vertrauen, dass die Äusserungen über die Zinsentwicklung – oft über einen langen Prognosezeitraum – durch die Zentralbank auch durchgesetzt würden. Wenn also der Vorsitzende darüber informierte, dass das FED dafür sorgen würde, dass die kurz- und langfristigen Zinsen noch lange tief blieben, konnte ein Hedgefonds eine Strategie umsetzen, die mittels hohem Fremdkapitaleinsatz eine grosse Hebelwirkung erzielte. Der Kapitalgeber verzichtete auf eine Risikoprämie, da die Zinsen ja von offizieller Seite her über längere Zeit tief gehalten würden. Mit anderen Worten haben die grossen Zentralbanken das Zinsänderungsrisiko massiv reduziert und dadurch Geschäftsmodelle ermöglicht, die nur unter diesen Umständen überhaupt rentabel sind. Mit steigenden Zinsen erleben wir derzeit, dass diese Modelle auf Sand gebaut waren und nun krachend scheitern.
Eine zweite gravierende Nebenwirkung des Forward Guidance-Konzepts besteht in der zu späten Reaktion auf unerwartete Entwicklungen. Noch bis vor Kurzem haben das FED und die EZB die Preisdynamik fundamental falsch eingeschätzt: Die Inflation, so glaubte man, sei vorübergehend und würde bald wieder in den Zielbereich zurückkehren. Doch der Preisschub belehrte die Öffentlichkeit eines Besseren. Die Zentralbanken hatten nun die Wahl: Entweder gestand man sich und der Öffentlichkeit die krasse Fehleinschätzung ein und überraschte die Märkte mit einer entschiedenen geldpolitischen Straffung. Damit hätten die Zentralbanken ihre Glaubwürdigkeit, dass sie dank Forward Guidance eine verlässliche Politik betreiben, untergraben. Oder aber man hielt an den Aussagen der Vergangenheit fest, versuchte die Glaubwürdigkeit kommunikativ zu retten, wurde aber durch die Fakten blossgestellt. Mehr als acht Prozent Inflation ist ein Armutszeugnis für Zentralbanken wie FED und EZB, die zumindest rechtlich relativ unabhängig sind. Die beiden grossen Taktgeber haben entsprechend zu spät auf den inflationären Schub reagiert. Auch eine Zentralbank macht Fehler. Je rascher sie diese korrigiert, desto weniger Lack blättert ab.
Das Schönwetterkonzept, das die Märkte vor überraschenden geldpolitischen Schritten bewahren will, hat gravierende Nebenwirkungen und taugt in Krisenzeiten nicht. Zwar mag es für gewisse wirtschaftliche Tätigkeiten eine erhöhte Planungssicherheit geschaffen haben, was auch Investitionen in der Realwirtschaft erleichtert hat. Es hat aber vor allem die Finanzmärkte aufgebläht. Und das Konzept dürfte auch dazu beigetragen haben, dass die Inflation in den USA und in Europa zu spät bekämpft wurde. Die SNB tat daher gut daran, dem geldpolitischen Mainstream nicht zu folgen und auf eine Forward Guidance-Kommunikation zu verzichten. Ihre Glaubwürdigkeit ist intakt.
FOKUS INFLATION
Folge I: Achtung Geldillusion – Der Franken ist nicht mehr so stark wie 2015
Folge II: Vier Gründe für die rekordhohe Inflationsrate in den USA
Folge III: «This time is different» – wirklich?
Folge IV: Nicht neutral, sondern ganz schön fies
Folge V: Die unabhängige SNB schlägt zurück
Folge VI: Wieso schlägt der Ölpreisanstieg nicht stärker auf die Schweiz durch?
Folge VII: Der Ukraine-Krieg heizt die Inflation an
Folge VIII: Der perfekte Sturm – so entsteht eine Hyperinflation
Folge IX: Die Geldpolitik der USA und der EZB – ein Spiel mit dem Feuer
Folge X: Ist die Türkei auf dem Weg zur Hyperinflation?
Fokus XI: Eine Zentralbank muss die Märkte überraschen dürfen
Fokus XII: «Forward Guidance» – eine Medizin mit Nebenwirkungen
Fokus XIII: Staatspreise machen alles nur schlimmer
Folge XIV: Reichen die Zinserhöhungen zur Zähmung der Teuerung?