Monika Rühl dans une séance

Mo­ni­ka Rühl im Ge­spräch: Wol­len wir un­se­ren Wohl­stand hal­ten, müs­sen wir uns be­we­gen

Mo­ni­ka Rühl ist seit knapp vier Jah­ren Di­rek­to­rin des Wirt­schafts­dach­ver­bands eco­no­mie­su­is­se. Für sie ist klar: Will die Schweiz wei­ter­hin Er­folg haben, muss sie sich für of­fe­ne Märk­te ein­set­zen und sich nicht ab­schot­ten, und zwar im In- wie auch im Aus­land.

Um die De­mo­kra­tie ist es schlecht be­stellt. Ge­mäss einer Stu­die des bri­ti­schen Wirt­schafts­ma­ga­zins «The Eco­no­mist» (De­mo­kra­tie-Index 2017) ist sie welt­weit auf dem Rück­zug. Müs­sen wir uns Sor­gen ma­chen?
Die Di­gi­ta­li­sie­rung und die Glo­ba­li­sie­rung ver­än­dern Wirt­schaft und Ge­sell­schaft fun­da­men­tal. Des­halb ist mei­ner Mei­nung nach De­mo­kra­tie noch wich­ti­ger als bis­her.

Wes­halb?
De­mo­kra­tie gibt den Men­schen die Mög­lich­keit mit­zu­wir­ken. Ohne Mit­wir­kung der Men­schen kön­nen glo­ba­le Trends wie eben die Di­gi­ta­li­sie­rung nicht um­ge­setzt wer­den. Die Men­schen müs­sen sol­che Ver­än­de­run­gen mit­tra­gen. Wir haben in der Schweiz das gros­se Pri­vi­leg, dass wir in einer di­rek­ten De­mo­kra­tie leben und die Leute sehr kon­kret mit­be­stim­men kön­nen. Wenn die De­mo­kra­tie welt­weit tat­säch­lich auf dem Rück­zug ist, ist dies keine er­freu­li­che Ent­wick­lung.

Man sieht es auch daran, dass der Pro­tek­tio­nis­mus welt­weit zu­nimmt. Allen voran die USA und China bauen Han­dels­bar­rie­ren auf. Wel­ches sind die Fol­gen für die Welt­wirt­schaft?

Der Pro­tek­tio­nis­mus ist be­reits seit ei­ni­gen Jah­ren auf dem Vor­marsch. Er wi­der­läuft dem Prin­zip der of­fe­nen Märk­te und des frei­en Han­dels und er ge­fähr­det un­se­ren Wohl­stand. Es bleibt uns als Ex­port­na­ti­on gar keine an­de­re Mög­lich­keit, als gegen die­sen Trend an­zu­kämp­fen.

Was kann die Schweiz kon­kret aus­rich­ten?
Wir dür­fen uns nicht ab­schot­ten, wir müs­sen offen blei­ben. Wobei wir nicht ver­ges­sen dür­fen, dass es diese Ab­schot­tungs- und pro­tek­tio­nis­ti­schen Ten­den­zen auch in der Schweiz gibt.

Der Pro­tek­tio­nis­mus ist be­reits seit ei­ni­gen Jah­ren auf dem Vor­marsch. Er wi­der­läuft dem Prin­zip der of­fe­nen Märk­te und des frei­en Han­dels und er ge­fähr­det un­se­ren Wohl­stand.

Woran den­ken Sie?
Sie sind in ganz un­ter­schied­li­chen Be­rei­chen an­zu­tref­fen. Die Schweiz hat eine der am bes­ten ge­schütz­ten Agrar­wirt­schaf­ten der Welt. Da braucht es den Abbau des Grenz­schut­zes. Wir be­ob­ach­ten auch eine Ab­schot­tung in der di­gi­ta­len Welt: Unser Par­la­ment will Netz­sper­ren ein­füh­ren. Fer­ner sind auch un­se­re Be­zie­hun­gen zur EU nicht vor Pro­tek­tio­nis­mus ge­feit, ich denke an die Selbst­be­stim­mungs­in­itia­ti­ve oder die Kün­di­gungs­in­itia­ti­ve der SVP. Gegen all diese Trends muss sich die Schweiz zur Wehr set­zen. Wir sind eines der we­ni­gen Län­der mit einem der­art hohen Ex­port­an­teil. Das heisst die Kraft un­se­rer Wirt­schaft be­ruht auf der Ex­port­wirt­schaft. Damit wir diese Kraft wei­ter­hin nut­zen kön­nen, brau­chen wir den Zu­gang zu den of­fe­nen Märk­ten und müs­sen uns des­halb gegen Ab­schot­tung weh­ren.

Auch wenn gros­se Wirt­schafts­blö­cke wie die USA, In­di­en oder China sich ab­schot­ten?
Es gibt ein gros­ses glo­ba­les Kräf­te­mes­sen. Das hat man am dies­jäh­ri­gen Welt­wirt­schafts­fo­rum in Davos schön ge­se­hen. Mer­kel, Ma­cron, May, Trump und Modi haben Wer­bung ge­macht für ihre ei­ge­ne Volks­wirt­schaft. Gleich­zei­tig haben sie für Markt­öff­nung und Zu­sam­men­ar­beit plä­diert. Die­sen Trend gibt es auch, und er muss ge­lebt wer­den. Die Schweiz kann als klei­nes, ex­port­ori­en­tier­tes Land gar nicht an­ders, als sich gegen Pro­tek­tio­nis­mus und Ab­schot­tung zu en­ga­gie­ren. Die Schweiz braucht ge­si­cher­te Markt­zu­gän­ge über Frei­han­dels­ab­kom­men. eco­no­mie­su­is­se hat in einer Stu­die auf­ge­zeigt, dass das gröss­te nicht aus­ge­schöpf­te Po­ten­zi­al in den USA liegt.

Hat der Auf­tritt von Trump in Davos etwas in Gang ge­bracht?
Ich habe nichts ge­hört, was in Rich­tung eines all­fäl­li­gen Frei­han­dels­ab­kom­mens deu­ten würde. Wei­te­re wich­ti­ge Wirt­schafts­part­ner sind Bra­si­li­en und Ar­gen­ti­ni­en, aber auch In­di­en. Und wir dür­fen die Ver­trä­ge ge­gen­über un­se­rem alten, be­währ­ten und wich­tigs­ten Han­dels­part­ner, der EU, nicht leicht­fer­tig aufs Spiel set­zen.

Müss­te sich die Schweiz nicht noch stär­ker an Eu­ro­pa leh­nen an­ge­sichts der pro­tek­tio­nis­ti­schen Ten­den­zen welt­weit? Mit Eu­ro­pa ver­bin­den uns viele ge­mein­sa­me li­be­ra­le Werte.
Auch die USA und China sind at­trak­ti­ve Märk­te. Als drit­te Wirt­schafts- und Welt­macht ver­sucht sich In­di­en zu eta­blie­ren. Eu­ro­pa muss auf­wa­chen, und zwar als Kon­ti­nent. Die EU muss un­be­dingt mit ihrer Na­bel­schau auf­hö­ren und sich auf ihre Wett­be­werbs­fä­hig­keit fo­kus­sie­ren. Die Schweiz ist in­ner­halb des eu­ro­päi­schen Kon­ti­nents ein Wachs­tums­mo­tor. Damit die­ser aber rich­tig brum­men kann, muss unser di­rek­tes wirt­schaft­li­ches Um­feld eben­falls gut auf­ge­stellt sein, denn wir sind ab­hän­gig von Eu­ro­pa, ob es uns ge­fällt oder nicht.

Die EU ist un­se­re wich­tigs­te Han­dels­part­ne­rin. Wir dür­fen die Be­zie­hung nicht leicht­fer­tig aufs Spiel set­zen.

Plä­die­ren Sie für stär­ke­re Be­zie­hun­gen?

In ers­ter Linie für die Auf­recht­er­hal­tung der be­währ­ten bi­la­te­ra­len Ver­trä­ge. Diese darf man nicht ohne Not über Bord wer­fen.

Die Bi­la­te­ra­len sind also sa­kro­sankt?
Sie sind ein ein­zig­ar­ti­ges Mo­dell. Die Bri­ten, die krampf­haft ver­su­chen her­aus­zu­fin­den, wie sie ihre Be­zie­hun­gen zur EU nach dem Aus­tritt struk­tu­rie­ren sol­len, spre­chen vom «Swiss Model». Das zeigt, dass sich die bi­la­te­ra­len Ver­trä­ge be­währt haben. Ich sehe keine Al­ter­na­ti­ve.

Was be­deu­tet der Brex­it für Eu­ro­pa und die Schweiz?
Ich sehe die li­be­ra­le Grund­ten­denz in Eu­ro­pa zwar nicht ge­fähr­det. Doch die EU ver­liert mit dem Aus­tritt der Bri­ten ein wich­ti­ges wirt­schafts­li­be­ra­les Ele­ment ...

… und die Schweiz einen wirt­schafts­li­be­ra­len Part­ner.
Wir kön­nen un­se­re Be­zie­hun­gen mit den Bri­ten neu ge­stal­ten. Zuvor müs­sen aber Brüs­sel und Lon­don eine Lö­sung fin­den, und da ist noch ei­ni­ges im Un­kla­ren. Doch ich be­wer­te diese Ent­wick­lung als Chan­ce für die Schweiz. 

Die bi­la­te­ra­len Ver­trä­ge haben sich be­währt. Ich sehe keine Al­ter­na­ti­ve.

Welt­weit neh­men Pro­tek­tio­nis­mus und Po­pu­lis­mus zu. Die gros­sen Wirt­schafts­füh­rer sagen «We first». Ist die Zeit des Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus vor­bei?
Ich glau­be nicht. Der Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus hat sich be­währt, je­doch braucht er eine so­zia­le Ab­fe­de­rung. Man muss die Leute immer mit­neh­men und ihnen er­klä­ren, was wes­halb pas­siert. Wir be­ob­ach­ten ge­gen­wär­tig eine Delle an­ge­sichts pro­tek­tio­nis­ti­scher Strö­mun­gen. Das hat auch mit na­tio­na­lis­ti­schen Strö­mun­gen in der Po­li­tik zu tun. Ich bin über­zeugt, dass der li­be­ra­le An­satz zu­kunfts­ver­spre­chend ist.

Wie kom­men Sie zu die­ser Zu­ver­sicht?
Do­nald Trump sagte in Davos einen be­mer­kens­wer­ten Satz: «Ame­ri­ca first doesn’t mean Ame­ri­ca alone.» Die USA haben im Ge­gen­satz zur Schweiz einen rie­si­gen Bin­nen­markt mit 250 Mil­lio­nen Kon­su­men­tin­nen und Kon­su­men­ten, wes­halb sie sich leich­ter ab­schot­ten kön­nen. Doch Trumps Aus­sa­ge «not alone», «nicht al­lei­ne», stimmt mich für die Zu­kunft zu­ver­sicht­lich. Die kon­stan­ten Auf­ru­fe der Wirt­schafts­füh­rer am Welt­wirt­schafts­fo­rum zur Zu­sam­men­ar­beit sind ein wei­te­res po­si­ti­ves Zei­chen.

Was heisst das nun für die Schwei­zer Po­li­tik?
Wir haben einen drin­gen­den Re­form­be­darf in ver­schie­de­nen Be­rei­chen: die Steu­ern, un­se­re Be­zie­hun­gen zu Eu­ro­pa oder die Al­ters­vor­sor­ge. Wir müs­sen den Wirt­schafts­stand­ort Schweiz at­trak­tiv hal­ten und kön­nen das nur, wenn wir die Re­for­men an­pa­cken und um­set­zen. Die Un­ter­neh­men brau­chen für ihren Er­folg best­mög­li­che Rah­men­be­din­gun­gen.

Wel­che Haus­auf­ga­ben haben die Un­ter­neh­men?
Sie müs­sen in­no­va­tiv und at­trak­tiv blei­ben und die Kos­ten im Griff haben. Das ma­chen die Schwei­zer Un­ter­neh­men ins­ge­samt sehr gut, sonst wären wir nicht da, wo wir heute ste­hen.

Wie bli­cken Ihre aus­län­di­schen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen auf die Schwei­zer Wirt­schaft?
Die Schweiz wird be­nei­det um ihre wirt­schaft­li­che Stär­ke. Viele stau­nen, dass ein der­art klei­ner Bin­nen­markt so viel glo­ba­le Kraft ent­fal­ten kann und zu den 20 gröss­ten Volks­wirt­schaf­ten der Welt ge­hört. Das wird an­er­kannt und be­staunt. Ich war kürz­lich in Ös­ter­reich und hörte häu­fig: «Die Schweiz macht so vie­les rich­tig, wir müs­sen von euch ler­nen.» Ich wün­sche mir, dass uns in der Schweiz stär­ker be­wusst wird, dass wir zwar sehr vie­les rich­tig ma­chen, aber mehr Schub geben müs­sen.

Die kon­stan­ten Auf­ru­fe der Wirt­schafts­füh­rer am Welt­wirt­schafts­fo­rum zur Zu­sam­men­ar­beit sind ein po­si­ti­ves Zei­chen.

In­wie­fern?
Viele Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer haben das Ge­fühl, uns könne nichts pas­sie­ren. Wir füh­len uns si­cher, weil wir als Wirt­schafts­stand­ort ver­schie­de­ne Kri­sen gut ge­meis­tert haben, was uns ein Ge­fühl der Un­ver­letz­bar­keit gibt. Und das ist ein sehr ge­fähr­li­ches Ge­fühl. Die Welt um uns herum schläft nicht. Wir müs­sen uns be­wusst wer­den, dass wir uns be­we­gen müs­sen, wenn wir un­se­ren Wohl­stand hal­ten wol­len.

In wel­chen Be­rei­chen muss sich die Schweiz be­we­gen?
Ein Be­reich ist die Di­gi­ta­li­sie­rung, in dem sich viel sehr schnell be­wegt und fun­da­men­tal ver­än­dert. Wenn die Po­li­tik zu re­gu­lie­ren be­ginnt, dann re­gu­liert sie stets die Ge­gen­wart, wäh­rend die Ent­wick­lung schon mei­len­weit vor­aus ist. Es muss uns noch bes­ser ge­lin­gen, schnel­ler und wir­kungs­vol­ler auf neue Ideen und Trends zu re­agie­ren. Ich bin sehr ge­spannt, wie die Po­li­tik mit dem Cryp­to Val­ley um­ge­hen wird. Wir haben die ein­zig­ar­ti­ge Mög­lich­keit, zu einem welt­weit füh­ren­den Zen­trum der Block­chain-Tech­no­lo­gie zu wer­den. Dafür braucht es si­cher einen ge­wis­sen ge­setz­li­chen Rah­men, aber keine Über­re­gu­lie­rung, wel­che die Ent­wick­lung ab­würgt.

Die Welt um uns herum schläft nicht. Wir müs­sen uns be­wusst wer­den, dass wir uns be­we­gen müs­sen, wenn wir un­se­ren Wohl­stand hal­ten wol­len.

Wo sehen Sie in der Schwei­zer Wirt­schaft das gröss­te Po­ten­zi­al?
Ich sehe es in der ge­wal­ti­gen In­no­va­ti­ons­kraft und der un­glaub­li­chen An­pas­sungs­fä­hig­keit der Un­ter­neh­men. Ich stau­ne jetzt noch, wie die Schwei­zer Wirt­schaft den Fran­ken­schock re­la­tiv un­be­scha­det über­stan­den hat. Dazu ge­hört auch das erst­klas­si­ge Bil­dungs­sys­tem. Diese Tu­gen­den gilt es zu be­wah­ren.

Das In­ter­view er­schien am 23. Fe­bru­ar 2018 auf in­flu­ence. Das Ge­spräch hat Pas­cal Ihle, einer der Her­aus­ge­ber, ge­führt.