# 4 / 2024
27.06.2024

Wasserstoff und erneuerbare Gase: Der Energieträger der Zukunft

Die Schweiz kann und muss aufholen

Die Schweizer Wasserstoffstrategie ist in Arbeit

Mit der Verabschiedung des Klimagesetzes im Jahr 2023 strebt die Schweiz bis 2050 die Klimaneutralität an. Diese Entscheidung beeinflusst vor allem die Energiepolitik. Fossile Energien müssen konsequent durch klimaneutrale Energien ersetzt werden. Elektrizität ist der bevorzugte Weg, um dies zu erreichen, aber angesichts der Grösse der Herausforderung, der Vielfalt der Bedürfnisse und der Notwendigkeit, die Versorgung zu diversifizieren, müssen wir auf alle klimaneutralen Energien setzen. Wasserstoff ist Teil der Lösungen, zusammen mit anderen erneuerbaren Gasen oder flüssigen Brenn- und Treibstoffen.

Dennoch spielen diese Energieformen in den Plänen und Prognosen des Bundes derzeit nur eine marginale Rolle. Die Energieperspektive des Bundes geht davon aus, dass diese Energie bis 2050 etwa drei Prozent des Bedarfs der Schweiz decken wird (etwa fünf Terawattstunden pro Jahr ). Andere Prognosen räumen ihr einen deutlich höheren Stellenwert ein:

  • In den Szenarien des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) und der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) könnte der Verbrauch von Wasserstoff und erneuerbaren Gasen auf 27 TWh steigen, wobei der grösste Teil davon zur Stromerzeugung im Winter genutzt werden würde.
  • Eine Polynomics/E-bridge/EPFL-Studie , die im Auftrag von VSG und VSE erstellt wurde, geht von einem Bedarf von 9 TWh aus, der jedoch auf 40 TWh steigen könnte, wenn das Gas zur Stromerzeugung genutzt wird.
  • Auf europäischer Ebene sind die Schätzungen nochmals deutlich weniger konservativ: Ein Whitepaper des deutschen Forschungsprojekts «TransHyDe» geht davon aus, dass Europa 2050 jährlich 700 TWh Wasserstoff benötigt.

Die Schweizer Prognosen nehmen an, dass Wasserstoff zunächst nur in geringen Mengen lokal hergestellt und verbraucht wird, da es an einem internationalen Transportnetz mangelt. Erst später wird er aus Kostengründen, wegen der Transportinfrastruktur und wegen komparativer Vorteile anderer Länder überwiegend importiert.

Während die EU und ihre Nachbarländer bereits Massnahmen ergreifen, um die Einführung von Wasserstoff zu erleichtern, lässt sich die Schweiz Zeit. Eine Strategie wurde für 2024 angekündigt, doch ihre Umsetzung wird Jahre dauern. Diese Unsicherheiten verleiten zum Stillstand, denn die betroffenen Akteure warten auf klare Rahmenbedingungen, bevor sie Investitionsentscheidungen über substanzielle Beträge und Zeiträume treffen. Die derzeitige Zurückhaltung der Politik ist auch ein Handicap für den Anschluss der Schweiz an das europäische Wasserstoffsystem, das sich in unseren Nachbarländern entwickelt. Die Schweiz muss ihre Bemühungen intensivieren, mit folgenden Eckpunkten:

  • Wasserstoff und erneuerbare Gase Schritt für Schritt in den künftigen Energiemix der Schweiz integrieren, indem die Arbeiten an der Wasserstoffstrategie beschleunigt werden.
  • Regeln schaffen, die es ermöglichen, die notwendige Infrastruktur aufzubauen, um Wasserstoff und seine Derivate zu vermarkten, zu transportieren und zu nutzen.
  • Teilnahme am entstehenden europäischen Wasserstoffmarkt, insbesondere durch die Schaffung eines Systems von Herkunftsnachweisen.

Insgesamt nehmen die Eckpunkte der Schweizer Wasserstoffstrategie gemäss Postulatsbericht Candinas diese Forderungen auf. Massgebend für die Strategie sind allerdings vor allem heutige Nachfrageabschätzungen. Da die Marktentwicklung noch in den Kinderschuhen steckt, sind diese aber naturgemäss zurückhaltend. Beispielsweise können grosse Industriefirmen aufgrund der bestehenden Unsicherheiten heute keine eindeutigen Aussagen über ihren Wasserstoffverbrauch im Jahr 2050 machen. Die Nachfrageentwicklung als Grundvoraussetzung ist deshalb zu statisch gedacht. Wir müssen Infrastrukturen und Systeme bereitstellen, damit das Wasserstoff-Ökosystem entstehen kann. Die Nachfrage wird vorhanden sein, auch wenn das genaue Ausmass heute nicht abschliessend beurteilt werden kann.

Gute Voraussetzungen bei der Infrastruktur nutzen

Die Schweiz verfügt über ein flächendeckendes und hochwertiges Netz für den Erdgastransport. Im Inland erstreckt es sich vor allem auf der dicht besiedelten Ost-West-Achse, mit Importkapazitäten aus allen Nachbarländern (siehe Karte). Von Norden nach Süden durchquert unser Land ausserdem eine wichtige europäische Transitleitung. Sie dient einerseits der Gasversorgung der Schweiz und andererseits dem Handel zwischen Deutschland und Italien. Die Gesamtlänge der (Hochdruck-)Transportnetze auf Schweizer Boden beträgt rund 2300 Kilometer, jene der Verteilnetze sogar etwa 17'000 Kilometer. Dank dieses Netzes ist die Energie jederzeit nahe bei den Kunden, seien es Haushalte, Dienstleistungs- oder Industriebetriebe.

Bereits 2019 zeigte eine gesamteuropäische Studie, dass dieses Gasnetz für die Schweiz auf dem Weg zu Netto-Null 2050 ein enormes Asset ist. Demnach führt die Nutzung der bestehenden Infrastruktur zu Einsparungen von jährlich etwa 1,3 bis 1,9 Milliarden Franken beim Umbau des Energiesystems. Dies vor allem, weil der Ausbau des Stromnetzes besser abgefedert werden kann und die Umrüstungskosten je nach transportiertem erneuerbarem Gas gering sind.

Wasserstoff kann entweder rein, beigemischt zu Erdgas oder methanisiert und beigemischt zu Erdgas transportiert werden. Methanisiert oder rein mit tiefen Beimischquoten von bis zu zehn Prozent ist in der bestehenden Infrastruktur heute schon möglich. Höhere Beimischquoten von reinem Wasserstoff bedingen gewisse Aufrüstungen der Leitungen, zum Beispiel Beschichtungen, Ventilarmaturen, Messgeräte oder neue Kompressoren. Diese Investitionen lassen sich wirtschaftlich realisieren, sofern die Nachfrage nach erneuerbaren Gasen oder Wasserstoff vorhanden ist (bspw. bei grossen Industrieverbrauchern). Ist sie noch nicht vorhanden, kann der Staat mit gezielten Massnahmen die nötige Investitionssicherheit schaffen.

Die Transitleitung ist als Verbindung zu Europa derweil unverzichtbar, und zwar für die Schweiz als auch für Europa und speziell die Nachbarländer. Dies belegt das zustande gekommene Solidaritätsabkommen zwischen Deutschland, Italien und dem Nicht-EU-Mitglied Schweiz eindrücklich. Die EU-Kommission will bis 2030 mindestens 65 GW an Elektrolyse-Kapazitäten bereitstellen. Damit sollen jährlich zehn Megatonnen Wasserstoff produziert werden. Weitere zehn Megatonnen sollen aussereuropäisch hergestellt und importiert werden. Ein Ausbau von Produktionskapazitäten in einem ähnlichen Ausmass ist in diesem Zeitraum unrealistisch. Eine schnelle Versorgung der Wirtschaft und Gesellschaft mit erneuerbaren Gasen steht und fällt deshalb mit der Anbindung an Europa und an den «European Hydrogen Backbone».

Unternehmen und Forschungsinstitute haben die Führung übernommen

Während die Schweizer Wasserstoffpolitik nur langsam in Gang kommt, haben Unternehmen, Verbände und Forschungszentren die Initiative ergriffen. Dazu gehören unter anderem die wasserstoffbetriebene LKW-Flotte von Hyundai Hydrogen Mobility, der Verband der Wasserstoffproduzenten, der Verband der Schweizerischen Gasindustrie mit ihrem H2-Barometer, mehrere Elektrounternehmen oder Forschungsinstitute wie die EMPA, die EPFL und die ETH Zürich.