direkte Demokratie

Ergon In­for­ma­tik AG: Di­rek­te De­mo­kra­tie für Soft­ware­ent­wick­ler

Wie wird man einer der be­lieb­tes­ten Ar­beit­ge­ber der Schweiz? Wer sich das fragt, lan­det frü­her oder spä­ter bei Ergon In­for­ma­tik. Die Soft­ware­fir­ma hat in den ver­gan­ge­nen Jah­ren zahl­rei­che Aus­zeich­nun­gen er­hal­ten, die ihr genau das be­stä­ti­gen. Ein Au­gen­schein beim Fir­men­sitz in Zü­rich macht klar: Was in der Schwei­zer Po­li­tik funk­tio­niert, kann auch im Ge­schäfts­le­ben auf­ge­hen. Vor­aus­ge­setzt, man scheut Kri­tik nicht.

Einen ers­ten Hin­weis, warum Ergon In­for­ma­tik in der Gunst der Mit­ar­bei­ten­den steht, fin­den wir, bevor wir das Ge­bäu­de der Firma über­haupt be­tre­ten haben. Statt in einem an­ony­men Gross­bau aus Stahl und Glas in der Ag­glo­me­ra­ti­on kom­men die 260 Mit­ar­bei­ten­den mit­ten in Zü­rich Hot­tin­gen unter: in einem re­no­vier­ten In­dus­trie­bau samt Back­stein­ka­min und einem zwei­ten Ge­bäu­de un­ter­halb des Kreuz­plat­zes. Pa­trick Burk­hal­ter, ehe­ma­li­ger CEO und heu­ti­ger Ver­wal­tungs­rats­prä­si­dent der Soft­ware­fir­ma, er­klärt: Vor sie­ben Jah­ren stand Ergon In­for­ma­tik vor der Ent­schei­dung, ob man trotz be­reits hohen und wei­ter stei­gen­den Miet­kos­ten in der Stadt Zü­rich blei­ben oder in die kos­ten­güns­ti­ge­re Ag­glo­me­ra­ti­on zie­hen soll. Nach nüch­ter­nen be­triebs­wirt­schaft­li­chen Kri­te­ri­en be­trach­tet, schien die Si­tua­ti­on ei­gent­lich klar. Ein zum Ver­kauf ste­hen­des Grund­stück in Wet­zi­kon war be­reits ge­fun­den.

Zü­rich oder Ag­glo­me­ra­ti­on?

Doch bei Ergon läuft vie­les an­ders. Die Mit­ar­bei­ten­den kön­nen bei wich­ti­gen Ent­schei­dun­gen re­gel­mäs­sig mit­be­stim­men, Ergon kennt eine Art di­rek­te De­mo­kra­tie. Die Ge­schäfts­lei­tung stell­te das Per­so­nal da­mals vor die Ent­schei­dung, ob das Un­ter­neh­men in die Pe­ri­phe­rie zie­hen und die so ge­spar­ten Miet­kos­ten als zu­sätz­li­chen Lohn aus­be­zah­len oder im teu­ren Zü­rich blei­ben soll. Eine klare Mehr­heit der Mit­ar­bei­ten­den ent­schied sich für Letz­te­res, auch wenn pro Kopf und Jahr damit auf bis zu 8000 Fran­ken zu­sätz­li­chen Bonus ver­zich­tet wer­den muss­te. Pa­trick Burk­hal­ter hätte ei­gent­lich den Umzug in die Ag­glo­me­ra­ti­on vor­ge­zo­gen, re­spek­tier­te aber die Ent­schei­dung. Das kennt man in der Schweiz, wenn Po­li­ti­ker nach einer Volks­ab­stim­mung den Ent­scheid ak­zep­tie­ren und die­sen auch dann um­set­zen, wenn sie selbst viel­leicht an­ders ab­ge­stimmt haben.

So kam es auch im letz­ten Jahr. Die Mit­ar­bei­ten­den sties­sen den Vor­schlag der Ge­schäfts­lei­tung, ein neues Sa­lär­sys­tem ein­zu­füh­ren, um. Nun hat Ergon eine Ar­beits­grup­pe ein­ge­setzt, für die sich alle Mit­ar­bei­ten­den mel­den konn­ten und in der mög­lichst alle Funk­tio­nen im Un­ter­neh­men ver­tre­ten sein sol­len. An die­sen Leu­ten liegt es nun, eine mehr­heits­fä­hi­ge Lö­sung zum Ver­gü­tungs­sys­tem aus­zu­ar­bei­ten und diese wie­der­um der Be­leg­schaft zur Ab­stim­mung vor­zu­le­gen. Auch das kennt man in der Schwei­zer De­mo­kra­tie, wenn in der Ver­nehm­las­sungs­pha­se mög­lichst brei­te Teile der Ge­sell­schaft ein­be­zo­gen wer­den, um eine trag­fä­hi­ge, all­tags­taug­li­che Lö­sung aus­zu­ar­bei­ten.

Der Un­ter­schied der Ab­stim­mung be­züg­lich des Stand­ort­ent­scheids zur di­rek­ten De­mo­kra­tie in der Schweiz liegt na­tür­lich darin, dass es zu einem Ple­bis­zit kam, weil die Füh­rungs­mann­schaft die­ses an­ord­ne­te und nicht, weil die Mit­ar­bei­ten­den eine Ab­stim­mung ver­lang­ten. Doch ein sol­ches Re­fe­ren­dums­recht gibt es auch bei Ergon In­for­ma­tik. Ein jedes Team kann ein Veto gegen die Ent­schei­de des Team­lei­ters ein­le­gen und damit be­wir­ken, dass der Ent­scheid an die nächst­hö­he­re Ebene de­le­giert wird. Das kann theo­re­tisch bis zum Ver­wal­tungs­rat gehen. Und wie auch in der di­rek­ten De­mo­kra­tie der Eid­ge­nos­sen­schaft ist es na­tür­lich das Beste, wenn es gar nie ein Re­fe­ren­dum gibt. Wie man das aus der Po­li­tik kennt, ver­su­chen die Vor­ge­setz­ten der Ergon In­for­ma­tik des­halb, die Be­dürf­nis­se ihrer Mit­ar­bei­ten­den bei jedem Ent­scheid ein­flies­sen zu las­sen. Im po­li­tik­wis­sen­schaft­li­chen Jar­gon würde das heis­sen: Der Ge­setz­ge­ber an­ti­zi­piert die Po­si­ti­on re­fe­ren­dums­fä­hi­ger Kräf­te und rich­tet sich da­nach aus. Das ist gut­schwei­ze­ri­sche Kon­sens­de­mo­kra­tie.

Mög­li­che Nach­tei­le der di­rek­ten De­mo­kra­tie

Wer sich mit di­rek­ter De­mo­kra­tie be­schäf­tigt, muss ihr aber auch at­tes­tie­ren, dass sie Nach­tei­le mit sich brin­gen kann. In der Schweiz hängt immer das Da­mo­kles­schwert der In­itia­ti­ve und des Re­fe­ren­dums über den po­li­ti­schen Ent­schei­den und droht, diese hin­weg­zu­fe­gen und durch das Volks­vo­tum zu er­set­zen. Das bringt Un­si­cher­heit mit sich, und Un­si­cher­heit ist Gift für die Wirt­schaft. Wie sieht das bei Ergon aus? Ver­wal­tungs­rats­prä­si­dent Burk­hal­ter er­läu­tert: «Auch die Mit­be­stim­mung hat bei uns Gren­zen. Wie jedes an­de­re Un­ter­neh­men sind wir wett­be­werbs­ori­en­tiert und das be­deu­tet, dass wir nicht bei jedem Ent­scheid alle Mit­ar­bei­ten­den mit­ein­be­zie­hen kön­nen.» Nur so ist es Ergon In­for­ma­tik mög­lich, ge­gen­über In­ves­to­ren, Lie­fe­ran­ten und vor allem den Kun­den in­nert kur­zer Zeit Zu­sa­gen zu ma­chen, ohne dass die im Nach­hin­ein wie­der um­ge­stos­sen wür­den. Wei­ter wird über die di­rek­te De­mo­kra­tie in der Schweiz ge­sagt, sie könne nur funk­tio­nie­ren, wenn jeder ein­zel­ne Bür­ger gut in­for­miert ist, da es sonst zu Fehl­ent­schei­den kommt. Für ein Un­ter­neh­men bringt das Kos­ten mit sich, wenn es die Mit­ar­bei­ten­den auch über De­tails in­for­mie­ren muss. Doch Ergon will, dass mög­lichst viel Trans­pa­renz im Be­trieb da ist. Vor Ab­stim­mun­gen wer­den die Mit­ar­bei­ten­den zu In­for­ma­ti­ons­an­läs­sen ein­ge­la­den. Das Soft­ware­un­ter­neh­men greift auch auf elek­tro­ni­sche Hilfs­mit­tel zu­rück: Im In­tra­net kön­nen sich die Mit­ar­bei­ten­den in­for­mie­ren und sich in Dis­kus­si­ons­fo­ren zur Vor­la­ge aus­tau­schen. "Un­se­re Kul­tur führt dazu, dass sich viele Mit­ar­bei­ter in einem hohen Mass mit dem Un­ter­neh­men iden­ti­fi­zie­ren und sehr aktiv und un­ter­neh­me­risch mit­den­ken. Dies wird uns auch von un­se­ren Kun­den zu­rück­ge­mel­det. Der Nut­zen aus un­se­rer Kul­tur über­wiegt für uns darum mar­kant ge­gen­über mög­li­chen Nach­tei­len," so Burk­hal­ter. 

Nur für Kri­tik­fä­hi­ge

Es zeigt sich: Di­rekt­de­mo­kra­ti­sche In­stru­men­ten las­sen sich auch in der Ge­schäfts­welt er­folg­reich ein­set­zen. Heisst das, dass Ergon's Sys­tem ein­fach auf alle Be­trie­be über­tra­gen wer­den kann? Ga­brie­la Kel­ler, seit Juli 2016 Ge­schäfts­füh­re­rin bei Ergon, ist sich si­cher: «Nein, unser Sys­tem kann man nicht ein­fach über­neh­men. Wich­tig ist, dass man als Vor­ge­setz­ter Kri­tik an den ei­ge­nen Ent­schei­dun­gen ak­zep­tie­ren kann.» Bei einem streng hier­ar­chisch or­ga­ni­sier­ten Un­ter­neh­men wäre es für die Füh­rungs­mann­schaft wohl zu­erst ein­mal schwie­rig damit zu leben, dass plötz­lich alle Mit­ar­bei­ten­den mit­be­stim­men.