Schüler sitzen auf der Treppe

Re­form der gym­na­sia­len Ma­tu­ri­tät: ver­pass­te Chan­ce

Ak­tu­ell fin­det die Ver­nehm­las­sung zur «Wei­ter­ent­wick­lung der gym­na­sia­len Ma­tu­ri­tät» statt. Erst­mals seit 25 Jah­ren soll die Aus­bil­dung an den Gym­na­si­en um­fas­send re­vi­diert wer­den. Das vor­ge­schla­ge­ne Re­förm­chen führt je­doch zu­rück ins Ges­tern statt vor­wärts in die Zu­kunft.

Wenn nach einem Vier­tel­jahr­hun­dert die Über­ar­bei­tung einer Ver­ord­nung im Bil­dungs­be­reich an­ge­kün­digt wird, dann weckt dies Er­war­tun­gen. Da­mals stand das In­ter­net in sei­nen Kin­der­schu­hen, das Wort «Cloud» wurde aus­ser­halb von IT-Fach­krei­sen nur für me­teo­ro­lo­gi­sche Er­schei­nun­gen ver­wen­det, Jobs wie Web-De­si­gner oder Di­gi­tal Col­la­bo­ra­ti­on Spe­cia­list gab es noch nicht, und der di­gi­ta­li­sier­te Un­ter­richt lag in wei­ter Ferne.

Mo­men­tan läuft die Ver­nehm­las­sung zur «Wei­ter­ent­wick­lung der gym­na­sia­len Ma­tu­ri­tät», also die Re­vi­si­on der Ma­tu­ri­tätsa­n­er­ken­nungs­ver­ord­nung (MAV) bzw. des Ma­tu­ri­tätsa­n­er­ken­nungs­re­gle­ments (MAR). Aus Sicht von eco­no­mie­su­is­se prä­sen­tiert sich der Vor­schlag als ver­pass­te Chan­ce. Die Re­form ist zum Re­förm­chen – ge­mäss Duden eine «halb­her­zig un­ter­nom­me­ne, in den An­sät­zen ste­cken ge­blie­be­ne Re­form» – ver­kom­men. Nur das Of­fen­sicht­li­che wird an­ge­gan­gen: Die bei­den Fä­cher In­for­ma­tik sowie Wirt­schaft und Recht wer­den end­lich zu Grund­la­gen­fä­chern auf­ge­wer­tet. Das ist er­freu­lich, war aber auch über­fäl­lig. Eben­so wer­den die ba­sa­len Kom­pe­ten­zen ge­stärkt. Dies ist rich­tig und wich­tig, da sie zur Er­rei­chung des Bil­dungs­ziels «all­ge­mei­ne Stu­dier­fä­hig­keit» un­er­läss­lich sind. Bei der Um­set­zung von Letz­te­rem war­tet aber noch viel Ar­beit auf die Gym­na­si­en: Wenn der ent­spre­chen­de Ar­ti­kel im MAR/MAV ernst ge­nom­men wird, dann müs­sen im Ge­gen­satz zu heute alle Ma­tu­ran­din­nen und Ma­tu­ran­den über die ent­spre­chen­den Ba­sis­kom­pe­ten­zen ver­fü­gen, ins­be­son­de­re in den Fä­chern Ma­the­ma­tik und Schul­spra­che. Dies muss jedes Gym­na­si­um durch ent­spre­chen­de För­de­rung und ent­spre­chen­de Tests kom­pro­miss­los si­cher­stel­len.

Fokus müss­te auf MINT und Soft Skills lie­gen

Die Stär­kung der Zu­kunfts­fä­hig­keit der gym­na­sia­len Ma­tu­ra ist ein zen­tra­les An­lie­gen der Wirt­schaft. Die Re­vi­si­on lie­fert auf diese Her­aus­for­de­rung aber keine aus­rei­chen­de Ant­wort, da die re­le­van­ten Fra­gen in den Ver­nehm­las­sungs­un­ter­la­gen nicht ge­stellt wer­den. Es fehlt eine sys­te­ma­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den Kom­pe­ten­zen, die heute und mor­gen auf dem Ar­beits­markt und in der Ge­sell­schaft ge­fragt sind. Aus Sicht der Wirt­schaft sind dies ei­ner­seits MINT-Kom­pe­ten­zen (Ma­the­ma­tik, In­for­ma­tik, Na­tur­wis­sen­schaft, Tech­nik). Nicht nur, weil MINT-Be­ru­fe immer wich­ti­ger wer­den, son­dern auch, weil es fast keine Be­ru­fe mehr gibt, bei denen diese Kom­pe­ten­zen keine Rolle spie­len. An­de­rer­seits müs­sen die Schü­le­rin­nen und Schü­ler gute Soft Skills er­wer­ben, da der Mensch mit die­sen Kom­pe­ten­zen ge­gen­über Ma­schi­nen auf ab­seh­ba­re Zeit klar im Vor­teil blei­ben wird. Gleich­zei­tig wird in­ter­dis­zi­pli­nä­res Ar­bei­ten in der heu­ti­gen Ar­beits­welt immer wich­ti­ger, ins­be­son­de­re in der For­schung und Ent­wick­lung. Es gäbe span­nen­de An­sät­ze, wie die För­de­rung der In­ter­dis­zi­pli­na­ri­tät als fixer Be­stand­teil in den Stun­den­plä­nen der Gym­na­si­en ver­an­kert wer­den könn­te. Auf­bau­end auf star­ken Kom­pe­ten­zen in den ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen könn­ten in der zwei­ten Hälf­te der Aus­bil­dung die Silos des fach­ori­en­tier­ten Un­ter­richts mit in­no­va­ti­ven Ge­fäs­sen stär­ker auf­ge­bro­chen wer­den.

Nur ein Re­förm­chen

Die vor­lie­gen­de Re­form ist aus die­sem Blick­win­kel ent­täu­schend. Sie prä­sen­tiert zu kei­nem der oben ge­nann­ten As­pek­te eine zu­frie­den­stel­len­de Lö­sung. Im er­läu­tern­den Be­richt wird nur un­ge­nü­gend auf­ge­zeigt, dass für die Stär­kung der Zu­kunfts­fä­hig­keit die MINT-Fä­cher zen­tral sind. Zudem wird der Min­dest­an­teil der MINT-Fä­cher an der Un­ter­richts­zeit kon­stant ge­las­sen, ob­wohl ein neues Fach (In­for­ma­tik) dazu kommt und ob­wohl die Schweiz in die­sem Be­reich seit Län­ge­rem einen aus­ge­wie­se­nen Fach­kräf­te­man­gel hat. Die Soft Skills bzw. über­fach­li­chen Kom­pe­ten­zen wer­den in den Er­läu­te­run­gen zum ent­spre­chen­den Ar­ti­kel im MAR/MAV (Art. 22 Abs. 1, Trans­ver­sa­le Un­ter­richts­be­rei­che) schlicht­weg ver­ges­sen. Es wer­den dort nur «Wis­sen­schafts­pro­pä­deu­tik, Bil­dung für nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung, po­li­ti­sche Bil­dung und Di­gi­ta­li­sie­rung» auf­ge­führt; kein Wort zu den wich­ti­gen über­fach­li­chen Kom­pe­ten­zen, die in allen Fä­chern ge­för­dert wer­den kön­nen und sol­len.

Fazit aus Sicht der Wirt­schaft: Das Re­förm­chen geht – mit Aus­nah­men – zag­haft in die rich­ti­ge Rich­tung. Der gros­se Wurf ist es aber lei­der nicht. Viele Gym­na­si­en in pro­gres­si­ven Kan­to­nen müs­sen nur wenig än­dern. Zudem sind sogar Über­gangs­fris­ten von zwölf Jah­ren vor­ge­se­hen. Nach Ab­schluss die­ses Pro­jekts muss die nächs­te Re­form, wel­che die gros­sen Fra­gen adres­siert, so­gleich fol­gen. Im­mer­hin war der Titel des Pro­jekts ehr­li­cher­wei­se von An­fang an «Wei­ter­ent­wick­lung». Die zu­stän­di­gen Be­hör­den schei­nen also be­reits vor Be­ginn der Re­vi­si­on be­schlos­sen zu haben, dass man auf kei­nen Fall mutig sein will. Lie­ber lässt man die Gym­na­si­en für die Ge­gen­wart aus­bil­den, die im be­ruf­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen All­tag der heu­ti­gen Gym­na­si­as­tin­nen und Gym­na­si­as­ten aber die Ver­gan­gen­heit sein wird.

 

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