Fokus In­fla­ti­on IV: Nicht neu­tral, son­dern ganz schön fies

In­fla­ti­on, wie sie der­zeit in den USA oder im Euro-Raum zu be­ob­ach­ten ist, ist eine ganz und gar un­ge­rech­te Sache, weil sie die Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung in einem Land stark be­ein­flusst. Wäh­rend ei­ni­ge ganz gut mit den all­ge­mei­nen Preis­er­hö­hun­gen zu­recht­kom­men, ver­lie­ren an­de­re deut­lich. Die of­fen­sicht­li­chen Ver­lie­rer sind Spa­rer und Kre­dit­ge­ber. Schuld­ner, seien dies Pri­va­te, Un­ter­neh­men oder Staa­ten, pro­fi­tie­ren hin­ge­gen, weil ihre Schul­den we­gin­fla­tio­niert wer­den. Doch In­fla­ti­on hat noch mehr Ver­tei­lungs­wir­kun­gen, die umso stär­ker aus­fal­len, je län­ger und je höher die in­fla­tio­nä­re Ent­wick­lung an­hält.

In­fla­ti­on hat viel­fäl­ti­ge Ver­tei­lungs­wir­kun­gen. Ers­tens führt sie dazu, dass Er­spar­tes we­ni­ger wert wird. Mit Bar­geld oder Geld auf tief ver­zins­ten Konti kann man am Ende we­ni­ger als zu Be­ginn des Jah­res kau­fen. In­fla­ti­on wirkt ent­spre­chend wie eine Steu­er auf das Hal­ten von Bar­geld oder flüs­si­gen Mit­teln. In der Schweiz be­trug die In­fla­ti­ons­ra­te im Ja­nu­ar 2022 im Ver­gleich zum Vor­jah­res­mo­nat 1,6 Pro­zent. Bei einem Ne­ga­tiv­zins von -0,75 ver­lor das Geld auf einem Trans­ak­ti­ons­kon­to in­ner­halb eines Jah­res 2,35 Pro­zent. Zum Ver­gleich: In Deutsch­land be­trug die In­fla­ti­ons­ra­te im Ja­nu­ar 2022 4,9 Pro­zent im Ver­gleich zum Ja­nu­ar 2021. Bei Ne­ga­tiv­zin­sen von 0,5 Pro­zent hat ein Spa­rer somit in­ner­halb von 12 Mo­na­ten 5,3 Pro­zent ver­lo­ren. Würde dies so an­hal­ten, würde in­ner­halb von nur 13 Jah­ren der Wert eines Be­trags auf dem Trans­ak­ti­ons­kon­to hal­biert. In den USA ist dies noch aus­ge­präg­ter, be­trug die In­fla­ti­on im De­zem­ber 2021 doch 7,5 Pro­zent. Wenn es so wei­ter­ge­hen würde, wären Dol­lar-Noten in den USA be­reits in 9 Jah­ren nur noch halb so viel wert!

Zwei­tens ver­lie­ren Kre­dit­ge­ber, weil der rück­zahl­ba­re Be­trag am Ende der Pe­ri­ode in­fla­ti­ons­be­rei­nigt we­ni­ger wert ist. Auch pri­va­te An­le­ger oder Pen­si­ons­kas­sen wer­den nach Ende der Lauf­zeit zwar den­sel­ben Be­trag zu­rück­er­hal­ten, nur hat die­ser bis dahin deut­lich an Wert ver­lo­ren. Hin­ge­gen wer­den die am höchs­ten Ver­schul­de­ten am meis­ten pro­fi­tie­ren: ins­be­son­de­re hoch­ver­schul­de­te Staa­ten, die tief­ver­zins­li­che An­lei­hen auf dem Markt ver­kauft haben. Auch Im­mo­bi­li­en­be­sit­zer kön­nen sich mit der In­fla­ti­ons­ra­te suk­zes­si­ve ent­schul­den. Wer aber in einem Hoch­in­fla­ti­ons­land seine Er­spar­nis­se nicht in rea­len Wer­ten an­ge­legt hat, der ver­armt.

Drit­tens ver­lie­ren Per­so­nen ohne sta­bi­le Ein­kom­mens­ver­hält­nis­se. Die­je­ni­gen, die auf dem Ar­beits­markt ge­fragt sind, er­hal­ten den Teue­rungs­aus­gleich per Ende des Jah­res oder teil­wei­se sogar im Vor­aus. An­de­re Grup­pen wie Rent­ner oder Lang­zeit­ar­beits­lo­se blei­ben in vie­len Län­dern auf der Stre­cke. Ge­ra­de in den USA, wo die so­zia­le Ab­si­che­rung deut­lich schlech­ter aus­ge­baut ist als in der Schweiz, kann eine hö­he­re In­fla­ti­on län­ger­fris­tig zu gros­sen so­zia­len Pro­ble­men füh­ren. Im­mer­hin wer­den die Ren­ten in den USA jähr­lich an­ge­passt.

Vier­tens kann das Steu­er­sys­tem be­wir­ken, dass die Steu­er­last real an­steigt. Auf­grund der häu­fig pro­gres­siv aus­ge­stal­te­ten Ein­kom­mens­steu­er führt der Teue­rungs­aus­gleich dazu, dass bei glei­chem rea­len Ein­kom­men pro­zen­tu­al hö­he­re Steu­ern be­zahlt wer­den müs­sen. (Diese so­ge­nann­te «kalte Pro­gres­si­on» wird in der Schweiz seit dem Be­schluss der eid­ge­nös­si­schen Räte im Jahr 2009 jähr­lich aus­ge­gli­chen, so dass diese Ver­zer­rung hier­zu­lan­de aus­blei­ben soll­te.)

Fünf­tens ver­zerrt die In­fla­ti­on die re­la­ti­ven Prei­se. In­fla­ti­on be­deu­tet näm­lich nicht, dass alle Prei­se im Gleich­schritt und im exakt glei­chen Aus­mass an­ge­passt wer­den. Viel­mehr steigt die Preis­va­ria­bi­li­tät in­ner­halb einer Volks­wirt­schaft ten­den­zi­ell mit der Höhe der In­fla­ti­ons­ra­te an. Das be­deu­tet, dass ein Preis in Re­la­ti­on zu einem an­de­ren Preis ver­zerrt wird. Bei­spiels­wei­se kos­tet dann ein Ki­no­ein­tritt nicht mehr etwa drei­mal so viel wie ein Kilo Brot, son­dern viel­leicht vier­mal so viel. Die Ver­zer­rung der re­la­ti­ven Prei­se er­zeugt In­ef­fi­zi­en­zen, Fehl­al­lo­ka­tio­nen, viel­leicht auch hö­he­re Such­kos­ten.

Sechs­tens er­schwert eine hohe In­fla­ti­ons­ra­te die Pla­nung von lang­fris­ti­gen Pro­jek­ten. Bei­spiels­wei­se nimmt bei mit­tel- und lang­fris­ti­gen Bau- und Aus­rüs­tungs­in­ves­ti­tio­nen die Un­si­cher­heit be­züg­lich der tat­säch­lich an­fal­len­den Kos­ten und somit auch be­züg­lich der Ren­ta­bi­li­tät zu. Die Ver­trags­par­tei­en be­gin­nen sich dann ju­ris­tisch ab­zu­si­chern. Auf­trag­neh­men­de kop­peln bei­spiels­wei­se die Of­fer­ten an die Preis­ent­wick­lun­gen, um sel­ber nicht das Ri­si­ko tra­gen zu müs­sen. Auf­trag­ge­bern, wel­che die künf­ti­ge In­fla­ti­ons­ra­te zu tief ein­schät­zen, lau­fen die Kos­ten wäh­rend der Pro­jekt­dau­er davon. Wer hin­ge­gen die In­fla­ti­on zu hoch ein­schätzt, ver­zich­tet viel­leicht auf die In­ves­ti­ti­on, da er deren Ren­ta­bi­li­tät als zu ge­ring be­trach­tet.

In­fla­ti­on pro­vo­ziert also er­heb­li­che Ver­tei­lungs­wir­kun­gen in einer Volks­wirt­schaft. Und je län­ger sie an­dau­ert und je höher sie steigt, desto mehr Men­schen ver­lie­ren. Wenn die gros­se Mehr­heit ver­liert, und der Kon­sum und die In­ves­ti­tio­nen ge­hemmt wer­den, dann kann dies, wie in den 1970er-Jah­ren, zu einer Stag­fla­ti­on füh­ren. Also das gleich­zei­ti­ge Auf­tre­ten von In­fla­ti­on und wirt­schaft­li­cher Sta­gna­ti­on. Ob man die Geis­ter, die man rief, heute schnel­ler los­wird als frü­her?


FOKUS IN­FLA­TI­ON

Folge I: Ach­tung Gel­dil­lu­si­on – Der Fran­ken ist nicht mehr so stark wie 2015 

Folge II: Vier Grün­de für die re­kord­ho­he In­fla­ti­ons­ra­te in den USA

Folge III: «This time is dif­fe­rent» – wirk­lich?

Folge IV: Nicht neu­tral, son­dern ganz schön fies

Folge V: Die un­ab­hän­gi­ge SNB schlägt zu­rück

Folge VI: Wieso schlägt der Öl­preis­an­stieg nicht stär­ker auf die Schweiz durch?

Folge VII: Der Ukrai­ne-Krieg heizt die In­fla­ti­on an

Folge VIII: Der per­fek­te Sturm – so ent­steht eine Hy­per­in­fla­ti­on

Folge IX: Die Geld­po­li­tik der USA und der EZB – ein Spiel mit dem Feuer

Folge X: Ist die Tür­kei auf dem Weg zur Hy­per­in­fla­ti­on?

Fokus XI: Eine Zen­tral­bank muss die Märk­te über­ra­schen dür­fen

Fokus XII: «For­ward Gui­dance» – eine Me­di­zin mit Ne­ben­wir­kun­gen

Fokus XIII: Staats­prei­se ma­chen alles nur schlim­mer

Folge XIV: Rei­chen die Zins­er­hö­hun­gen zur Zäh­mung der Teue­rung?

Folge XV: Ist in den USA ein «Soft Lan­ding» mög­lich?

Folge XVI: Miet­zins­re­ge­lung er­schwert der SNB die Ar­beit