Lastwagen fahren über Brücke; darunter Wälder und ein Fluss

Die Schweiz muss ihre In­fra­struk­tur wie­der auf Vor­der­mann brin­gen

Ver­kehr, En­er­gie­ver­sor­gung, Mo­bil­funk - über­all dro­hen Skle­ro­sen. Es ist Zeit, dass wir mit in­tel­li­gen­ter Soft­ware und Preis­si­gna­len etwas da­ge­gen tun.

Wir alle ken­nen diese Si­tua­ti­on. Man fährt auf dem Land­weg in die Fe­ri­en – und kaum über­quert man die Gren­ze, merkt man: Jetzt sind wir nicht mehr in der Schweiz. Alles wirkt, man kann es nicht an­ders sagen, einen Tick schlech­ter – die Stras­sen, die Sau­ber­keit, die Pünkt­lich­keit der Züge, das An­ge­bot im öf­fent­li­chen Ver­kehr, das Mo­bil­funk­netz. Die­ser Ein­druck ist nicht etwa die Folge eines ver­klär­ten Pa­trio­tis­mus. Er lässt sich ob­jek­ti­vie­ren. So er­reicht die Schweiz im Län­der­ver­gleich des Welt­wirt­schafts­fo­rums im Be­reich In­fra­struk­tur mit der Note «Fast per­fekt» den vier­ten Rang welt­weit. Un­se­re In­fra­struk­tur ist gut, sehr gut sogar.

Doch die Be­ob­ach­tung ist trü­ge­risch. Denn die In­fra­struk­tur, auf die wir heute stolz sind, ist das Er­geb­nis jahr­zehn­te­lan­ger In­ves­ti­tio­nen. So stammt zum Bei­spiel ein gros­ser Teil un­se­rer Tun­nels, Brü­cken oder der Ab­was­ser­sys­te­me aus den sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren. Und bei un­se­rer In­fra­struk­tur ver­hält es sich ein biss­chen wie bei einem Wein­gut, des­sen prä­mier­te Weine von heute von den Win­zern der vor­an­ge­gan­ge­nen Ge­ne­ra­ti­on an­ge­baut wur­den: Die Aus­zeich­nun­gen kön­nen leicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass die Reben be­reits von Wur­zel­fäu­le be­fal­len sind und das Fun­da­ment für den Er­folg ero­diert. Ein ge­nau­er Blick auf un­se­re In­fra­struk­tur zeigt tat­säch­lich erste faule Stel­len:

  • Das Stras­sen­netz ist chro­nisch über­las­tet. Jeden Tag ste­hen Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer im Schnitt etwa 200 000 Stun­den im Stau. Die Stau­stun­den haben sich seit 20 Jah­ren mehr als ver­drei­facht. Das kos­tet uns drei Mil­li­ar­den Fran­ken pro Jahr. Zum Ver­gleich: Damit könn­te man die Hälf­te des gan­zen Bun­des­per­so­nals be­zah­len.
  • Auf der Schie­ne ste­hen min­des­tens bis 2035 sub­stan­zi­el­le In­ves­ti­tio­nen an. Das Geld dafür war schnell ge­spro­chen, mit der Um­set­zung ha­pert es je­doch. Be­wil­li­gun­gen und kom­ple­xe Ver­fah­ren sor­gen für Fla­schen­häl­se. Auch fliesst ein stei­gen­der An­teil der In­ves­ti­tio­nen in le­bens­er­hal­ten­de Mass­nah­men, also in Be­trieb und Un­ter­halt. Zu­kunfts­ge­rich­te­te Aus­bau­ten wer­den zur Sel­ten­heit.
  • Im Flug­ver­kehr be­steht prak­tisch Still­stand. Eine Pis­ten­ver­län­ge­rung um we­ni­ge Meter am Flug­ha­fen Zü­rich zur Er­hö­hung der Si­cher­heit und Be­wah­rung – nicht ein­mal Aus­bau – der Ka­pa­zi­tät, dürf­te sich bis nach 2030 hin­zie­hen.
  • Der Aus­bau von er­neu­er­ba­rer En­er­gie be­darf meh­re­rer Jahr­zehn­te –deut­lich län­ger als im eu­ro­päi­schen Aus­land. Und er geht zwei- bis drei­mal lang­sa­mer voran, wie er soll­te. Wich­ti­ge Pi­lot­pro­jek­te im Be­reich Was­ser­stoff wer­den von Re­kur­sen ver­hin­dert. Auch die Strom­net­ze müss­ten laut dem Bun­des­amt für En­er­gie für bis zu 30 Mil­li­ar­den Fran­ken bis 2050 aus­ge­baut wer­den, um den An­sprü­chen der Zu­kunft zu ge­nü­gen.
  • Die Was­ser­ver­sor­gung ist noch nicht fit für den Kli­ma­wan­del, wie kürz­lich von einem Be­richt des Bun­des be­stä­tigt wurde. Ein Gross­teil der Lei­tun­gen in der Schweiz stammt aus dem letz­ten Jahr­hun­dert und ist sa­nie­rungs­be­dürf­tig.
  • Im Mo­bil­funk sind über 3000 Bau­ge­su­che für An­ten­nen­auf­rüs­tun­gen hän­gig, die im Schnitt min­des­tens drei Jahre brau­chen. Bund und Bran­che rech­nen damit, dass der 5-G-Aus­bau unter den der­zei­ti­gen Vor­aus­set­zun­gen mehr als zehn Jahre dau­ert und dabei Mil­li­ar­den ver­schlingt.

Das schlei­chen­de Zu­rück­fal­len in den ver­schie­de­nen Be­rei­chen ist ein Sym­ptom­kom­plex, der auf eine ge­ne­rel­le, ur­säch­li­che Krank­heit hin­deu­tet: Die Schweiz lei­det an In­fra­struk­tur-Skle­ro­se. Gegen eine sol­che In­fra­struk­tur-Skle­ro­se gibt es lei­der kein All­heil­mit­tel. Wir brau­chen ein grund­sätz­lich neues Den­ken in der In­fra­struk­tur­po­li­tik. Für den In­fra­struk­tur­bau muss die Schweiz ihre Ver­fah­ren straf­fen, die Ver­ant­wort­lich­kei­ten und Ko­or­di­na­ti­on im fö­de­ra­len Ge­bil­de stär­ken und die Markt­wirt­schaft­lich­keit und Nach­hal­tig­keit im Bau ver­bes­sern. Beim In­fra­struk­tur­ge­brauch gilt es, auf zu­kunfts­taug­li­che Lö­sun­gen zu set­zen. Die Hard­ware muss mit in­tel­li­gen­ter Soft­ware er­gänzt wer­den.

Auch Preis­si­gna­le und Ef­fi­zi­enz müs­sen in Zu­kunft eine Rolle spie­len, bei­spiels­wei­se durch ein ver­kehrs­trä­ger­über­grei­fen­des Mo­bi­li­ty Pri­cing. Es ist davon ab­zu­ra­ten, sich mit Sym­ptom­be­kämp­fung und Pfläs­ter­li­po­li­tik zu­frie­den­zu­ge­ben.

Dabei soll­te die Be­hand­lung nicht län­ger ver­schleppt wer­den. Die Schweiz droht in vie­len Be­rei­chen von der Vor­rei­te­rin zur Nach­züg­le­rin zu ver­kom­men. Dies ist be­son­ders pro­ble­ma­tisch, weil unser Land wächst – bis 2050 um einen Fünf­tel – und die In­fra­struk­tur damit immer stär­ker be­an­sprucht wer­den wird. Wenn wir 2050 bei einem Grenz­über­tritt nicht nur des­halb stolz sein wol­len, weil un­se­re Nach­bar­län­der es viel­leicht noch schlech­ter ma­chen, dann müs­sen wir jetzt han­deln. Das schul­den wir zu­künf­ti­gen Ge­ne­ra­tio­nen.

 

Die Erst­pu­bli­ka­ti­on die­ses Bei­trags er­folg­te am 15. Ja­nu­ar 2023 in der NZZ am Sonn­tag.