Das BIP pro Kopf steigt – auch dank der Personenfreizügigkeit

Im jüngsten Standpunkt in der NZZ am Sonntag argumentieren Fabian Kuhn und Reiner Eichenberger, dass die Schweiz in ihren Denkfallen der Personenfreizügigkeit gefangen sei. Die beiden Autoren stolpern in der Argumentation aber vor allem über ihre eigenen Denkfallen. Wo sie recht haben: Schweizer Bürgerinnen und Bürger wollen eine hohe Lebensqualität und einen hohen Wohlstand pro Kopf.

Deshalb gilt es, an der Personenfreizügigkeit und den damit zusammenhängenden bilateralen Verträgen mit der EU festzuhalten. Und zwar aus den drei nachfolgenden Gründen:

1. Der Wohlstand pro Kopf in der Schweiz hat zugenommen

Die angeblich schlechte Produktivitätsentwicklung in der Schweiz ist ein Märchen. Sie ist gut – erst recht, wenn man die zunehmende Freizeit und den rückläufigen Arbeitseinsatz aufgrund der demographischen Entwicklung mitberücksichtigt. So haben Produktivität, Wohlstand und Freizeit pro Kopf in der Schweiz in den letzten Jahren stetig zugenommen. Diese positive Entwicklung wurde durch die bilateralen Verträge und die Personenfreizügigkeit begünstigt. Seit Unterzeichnung der Bilateralen I im Jahr 1999 ist das reale (inflationsbereinigte) BIP pro Kopf in der Schweiz um 25% gewachsen. In absoluten Zahlen ist die Bevölkerung pro Kopf im Durchschnitt um 18'123 USD reicher geworden. Diese Wohlstandszunahme ist fast doppelt so hoch wie in Deutschland und beinahe drei Mal so hoch wie in Frankreich. Das Jahr 2023 als Grundlage für längerfristige Aussagen heranzuziehen ist unredlich. Denn würde man die Ukraine-Flüchtlinge mit Schutzstatus-S ausklammern, hätte das reale BIP pro Kopf auch 2023 zugenommen – und das trotz der Nichtberücksichtigung von Freizeit und Demografie.

2. Eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderung bringt viele Vorteile

Was Eichenberger und andere gekonnt verschweigen: Die demographische Entwicklung wird die Schweiz in den nächsten Jahren ganz grundlegend verändern. Bereits heute gehen mehr Arbeitskräfte in Pension, als Junge ins Berufsleben eintreten. Dieser demographische Wandel spitzt sich immer weiter zu: Ohne die dringend benötigten Arbeitskräfte aus dem EU-Raum drohen Firmenwegzüge, ein Verlust von Steuereinnahmen, weniger Innovation, eine schlechtere Versorgung und ein abnehmendes Serviceniveau. Dies führt letztlich zu einem Verlust an Wohlstand und Lebensqualität für alle.

Wie sollen in Zukunft innovative Lösungen und Produkte entstehen, wenn Firmen hierzulande keine hochqualifizierten Ingenieurinnen oder Software-Entwickler mehr finden? Wer pflegt unsere Angehörigen im Spital und im Altersheim, wenn sie alt oder krank sind? Wer arbeitet in der Gastronomie, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft, wenn die Schweizer dazu nicht mehr bereit sind? Klar ist: Einen Verzicht auf Erwerbstätige aus dem Ausland gibt es nicht zum Nulltarif. Ohne Arbeitskräftezuwanderung gerät übrigens auch die AHV schneller und stärker in Schieflage. Zudem stützen ausländische Arbeitskräfte unsere Altersvorsorge auch langfristig, wie eine neue Studie im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen zeigt.

3. Unerwünschte Folgen der Zuwanderung gezielt angehen

Gemäss dem neusten Chancenbarometer 2024 will die Schweizer Bevölkerung, dass die Schweizer Wirtschaft weiter wachsen kann. Fast niemand möchte die dafür notwendige Zuwanderung abwürgen. Trotzdem fordert die Bevölkerung von der Politik jetzt Massnahmen, um die unerwünschten Folgen des Bevölkerungswachstums zu begrenzen. Die Wirtschaft arbeitet aktiv daran, damit griffige Massnahmen umgesetzt werden. Man muss aber am richtigen Ort anpacken: economiesuisse fordert gezielte Massnahmen zur Steigerung der Produktivität und zur besseren Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials – beides führt zu weniger Zuwanderung. Im Asylbereich müssen die geltenden Gesetze endlich konsequent umgesetzt werden. Im Wohnungswesen müssen der Bau von Wohnungen attraktiver und die Dauer der Bewilligungsverfahren gekürzt werden. Beim Verkehr braucht es einen Ausbau sowie eine bessere Ausnutzung der bestehenden Infrastruktur.

Mit diesen Massnahmen wird es der Schweiz gelingen, die Lebensqualität auch längerfristig nicht nur zu erhalten, sondern noch weiter zu verbessern. Folgen wir jedoch den Denkfallen von Reiner Eichenberger, sitzen wir bald selbst in der Falle. Denn gerade vermeintlich einfache Lösungen können sich leicht als schädlicher Bumerang erweisen.